Das Licht von draußen fällt auf Beverlys runden Hinterkopf, als sie sich umdreht und die Geigen betrachtet, die an der Wand hängen.
»Ich wünschte, ich könnte Geige spielen«, sagt sie.
»Wir können ja gemeinsam einen Kurs belegen«, erwidert er lächelnd.
»Das würde ich gerne tun«, sagt sie ernst.
Er legt den Lappen auf den Tisch und spürt in seinem Inneren die große Müdigkeit rauschen. Die hallende Klaviermusik durchströmt den Raum, sie wird ohne Dämpfer gespielt, und die Töne fließen träumerisch ineinander.
»Armer Axel, du willst schlafen«, sagt sie.
»Ich muss arbeiten«, murmelt er kaum hörbar.
»Dann eben heute Abend«, sagt sie und steht auf.
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Aufzug abwärts
Kriminalkommissar Joona Linna hält sich in seinem Büro bei der Landeskriminalpolizei auf. Er sitzt am Schreibtisch und liest Carl Palmcronas Lebensbericht. In einer fünf Jahre alten Aufzeichnung erzählt Palmcrona, dass er nach Västerås reiste, um bei der Abschlussfeier seines Sohnes am letzten Schultag vor den Ferien dabei sein zu können. Als sich bei feuchtem Wetter alle mit Regenschirmen auf dem Schulhof versammelten und »Die Blütezeit nun kommet« sangen, hatte er in einiger Entfernung gestanden. Palmcrona beschrieb die weiße Jeans und weiße Jeansjacke seines Sohns, seine langen blonden Haare und dass der Junge »einen Zug um Nase und Augen hatte, der mich in Tränen ausbrechen ließ«. Er war nach Stockholm zurückgefahren und hatte gedacht, dass sein Sohn alles wert war, was er bisher getan hatte, und alles, was er noch tun würde.
Das Telefon klingelt, und Joona geht sofort an den Apparat. Es ist Petter Nilsson, der auf Dalarö in der mobilen Einsatzzentrale sitzt.
»Ich habe gerade mit der Gruppe des Hubschrauberverbands gesprochen«, berichtet er mit aufgeregter Stimme. »Sie überfliegen in diesem Moment die Erstaviken und haben Penelope Fernandez dabei.«
»Sie lebt?«, fragt Joona und wird von Erleichterung übermannt.
»Als sie die Frau gefunden haben, schwamm sie schnurstracks aufs offene Meer hinaus«, sagt Petter.
»Wie geht es ihr? Geht es ihr gut?«
»Scheint so – sie sind auf dem Weg zum Söderkrankenhaus.«
»Das ist zu gefährlich«, sagt Joona. »Fliegt sie lieber zu uns – wir holen ein Ärzteteam aus dem Karolinska-Krankenhaus her.«
Er hört Petter jemanden anweisen, eine Verbindung zum Hubschrauber herzustellen.
»Weißt du was über die anderen?«, fragt Joona.
»Es herrscht totales Chaos. Wir haben Leute verloren, Joona. Das ist doch Wahnsinn.«
»Björn Almskog?«, erkundigt sich Joona.
»Ist noch nicht gefunden worden, aber … es ist unmöglich, Informationen zu bekommen, wir wissen nichts.«
»Ist der Täter verschwunden?«
»Wir schnappen ihn uns, es ist eine kleine Insel. Unsere Leute von der Antiterrortruppe sind auf dem Boden und in der Luft im Einsatz, Boote von der Küstenwache und der Wasserschutzpolizei sind unterwegs.«
»Gut«, sagt Joona.
»Du glaubst nicht, dass wir ihn schnappen?«
»Wenn ihr ihn nicht sofort erwischt habt, ist er inzwischen wahrscheinlich fort.«
»Ist das meine Schuld?«
»Petter«, sagt Joona sanft, »wenn du nicht so schnell gehandelt hättest, wäre Penelope Fernandez jetzt tot … und ohne sie hätten wir nichts, keine Verbindung zu dem Foto, keine Zeugin.«
Eine Stunde später untersuchen zwei Ärzte vom Karolinska-Krankenhaus Penelope Fernandez in einem geschützten Raum unter dem Gebäude des Landespolizeiamts. Sie versorgen ihre Wunden, geben ihr Beruhigungsmittel und führen ihr Nährstoffe und Flüssigkeit zu.
Petter Näslund teilt Landeskriminalchef Carlos Eliasson mit, dass die sterblichen Überreste der beiden Kollegen Lennart Johansson und Göran Sjödin identifiziert worden sind. In den Trümmern des Polizeiboots ist darüber hinaus eine weitere Leiche gefunden worden, wahrscheinlich ist es Björn Almskog. Ossian Wallenberg ist tot vor seinem Haus gefunden worden, und Taucher sind dorthin unterwegs, wo der Hubschrauber des Seenotrettungsdienstes abgestürzt ist. Petter geht davon aus, dass sämtliche Insassen umgekommen sind.
Die Polizei hat den Täter nicht gefasst, aber Penelope Fernandez lebt.
Man senkt die Flagge vor dem Landespolizeiamt auf Halbmast, und Polizeipräsidentin Margareta Widding und der Landespolizeichef geben im Presseraum hinter den Glaswänden im Erdgeschoss bedrückt eine Pressekonferenz.
Kriminalkommissar Joona Linna nimmt an dem Treffen mit den Journalisten nicht teil, stattdessen nehmen er und Saga Bauer den Aufzug in die unterste Etage, um Penelope Fernandez zu treffen. Sie hoffen, die Gründe dafür zu erfahren, was geschehen ist.
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Was die Augen gesehen haben
Fünf Etagen unter dem modernsten Teil des Landespolizeiamts befindet sich ein Gebäudetrakt mit zwei Wohnungen, acht Gästezimmern und zwei Schlafsälen. Die Abteilung wurde eingerichtet, um in Krisensituationen, im Falle eines Ausnahmezustands oder im Katastrophenfall für die Polizeiführung die Möglichkeit einer sicheren Unterkunft zu garantieren. Seit zehn Jahren werden diese Gästezimmer zudem bei außergewöhnlichen Bedrohungen zum Schutz von Zeugen genutzt.
Penelope Fernandez liegt auf dem Krankenhausbett und spürt die Kühle in ihren Arm eindringen, als die Tropfgeschwindigkeit erhöht wird.
»Wir führen Ihnen Flüssigkeit und flüssige Nahrung zu«, erläutert die Ärztin Daniella Richards.
Mit sanfter Stimme erläutert sie anschließend, was sie tut, während sie die Kanüle in Penelopes Armbeuge festklebt.
Penelopes Wunden sind gesäubert und verbunden worden, der verletzte linke Fuß ist mittlerweile bandagiert und genäht worden, die Risswunde am Rücken gewaschen und getaped, während eine tiefe Wunde an der Hüfte mit acht Stichen genäht werden musste.
»Ich würde ihnen gegen die Schmerzen gerne etwas Morphium geben.«
»Mutter«, flüstert Penelope und befeuchtet ihre Lippen. »Ich möchte mit meiner Mutter sprechen.«
»Das verstehe ich«, antwortet Daniella. »Ich werde es weitergeben.«
Warme Tränen laufen Penelopes Wangen herab, in Haare und Ohren. Sie hört, wie die Ärztin eine Krankenschwester bittet, eine Injektion von 0,5 Milliliter Morphium-Skopolamin vorzubereiten.
Der Raum sieht aus wie ein gewöhnliches Krankenhauszimmer, ist möglicherweise jedoch ein wenig gepflegter. Auf dem Nachttisch steht ein einfacher Blumenstrauß, an den gelb gestrichenen Wänden hängen helle Bilder. Ein hübsches Bücherregal aus hellem Birkenholz steht voll gelesener Bücher. An diesem Ort haben Menschen unübersehbar viel Zeit zum Lesen gehabt. Der Raum hat keine Fenster, aber hinter einem Vorhang brennt eine Lampe, um von dem Gefühl abzulenken, dass man sich tief unter der Erde in einem Bunker befindet.
Daniella Richards erklärt Penelope freundlich, dass man sie jetzt in Ruhe lassen wird, sie aber jederzeit auf den leuchtenden Alarmknopf drücken kann, falls sie Hilfe benötigen sollte.
»Für den Fall, dass Sie etwas fragen wollen oder einfach ein wenig Gesellschaft brauchen, wird die ganze Zeit jemand hier sein«, sagt sie.
Penelope Fernandez bleibt allein in dem hellen Zimmer. Die warme Ruhe des Morphiums breitet sich in ihrem Körper aus und zieht sie in einen angenehmen Schlaf herab, und sie schließt die Augen.
Es knirscht leise, als eine Frau in einem schwarzen Niqab zwei kleine Figuren aus sonnengetrocknetem Lehm zertritt. Ein Mädchen und sein kleiner Bruder werden unter ihrer Sandale zu Krümeln und Staub. Die Frau mit dem Schleier trägt eine schwere Last aus Getreide auf dem Rücken und merkt nicht einmal, was sie da tut. Zwei Jungen pfeifen, lachen und johlen, dass die Sklavenkinder tot sind, dass nur noch ein paar Säuglinge übrig sind und alle Fur sterben werden.
Penelope verdrängt die Erinnerungsbilder aus Kubbum aus ihrem Gehirn und kurz vor dem Einschlafen hat sie für einen Moment das Gefühl, dass tonnenweise Stein, Erde, Lehm, Beton auf ihr lasten. Es ist, als fiele sie senkrecht in die Eingeweide der Erde, als fiele und fiele und fiele sie.