Ich schoss aus dem Alkoven heraus, als Lord Stonehouse sein Zimmer erreichte. Ich erhaschte einen Blick auf die prächtigen Wandteppiche, ehe ich aus den Augenwinkeln sah, wie Richard Stonehouse auf der Treppe kehrtmachte. Ich erstarrte. Jede Bewegung würde mich verraten. Ich hielt die Luft an, so groß war meine Angst, er könnte mich hören, wenn ich ausatmete. Er betrat das Zimmer seines Vaters, und ich hörte ihn sagen: »Mein Hut.« Fast sofort kam er wieder heraus, setzte einen fein gearbeiteten Federhut auf und ging davon. Langsam atmete ich aus und ein, um mein immer noch pochendes Herz zu beruhigen.
Er war fast außer Sicht, doch noch nicht ganz zufrieden mit dem Sitz des Hutes. Vor einem Glasspiegel in einem der Alkoven blieb er stehen. Seine Finger erstarrten. Es dauerte den Bruchteil einer Sekunde, ehe ich begriff, dass er mich im Spiegel sehen konnte. Vermutlich glaubte er nicht, was der Spiegel ihm zeigte. Vielleicht hielt er mich für einen Geist. Ich konnte mich weder rühren noch ein Wort herausbringen. In diesem Moment wünschte ich, wirklich ein Geist zu sein, der so plötzlich verschwinden könnte, wie Richard glaubte, dass ich aufgetaucht war. Die Gehässigkeit in seinem Blick ließ mich erstarren wie ein Kaninchen vor einer Schlange.
»Du«, sagte er leise. »Du.«
Er kam nah genug heran, um den Samt meines Leibrocks zu berühren. Meine Kleider schienen die gleiche Wirkung auf ihn zu haben wie ein Streichholz auf Schwarzpulver. Als er mich auf der königlichen Parade beinahe getötet hatte, hatte ich in meiner abgetragenen Kleidung wie eine lächerliche Missgeburt gewirkt. Und jetzt? Auch wenn ich nicht an Richards anspruchsvolle Aufmachung eines Höflings heranreichte, von den riesigen blumigen Rosetten an den Schuhen bis zu den Federn an seinem Hut, hatte ich doch unmissverständlich das Aussehen eines Edelmanns. Er hatte sein Schwert bereits halb gezogen, als er seinen Vater in der Tür stehen sah. Es war das einzige Mal, dass ich Lord Stonehouse sprachlos erlebt habe. Sein Mund stand offen. Er blinzelte und blinzelte noch einmal. Wenn Richard geglaubt hatte, er habe einen Geist erblickt, so war er davon überzeugt. Ich öffnete den Mund.
»Ich …«
Es war das einzige Wort, das ich hervorbrachte. Doch das genügte. Ich existierte. Ich lebte. Richard ignorierte mich. Er würde nicht mit mir sprechen. Ich war unsagbar. Die Worte, die er zu seinem Vater sagte, waren wie Säure, versetzt mit Bitterkeit. »Hättet Ihr nicht wenigstens warten können, bis ich weg bin?«
»Ich hatte keine Ahnung, dass er hier ist.«
»Er hat sich also selbst hereingelassen, nehme ich an?« In einer einzigen verschwommenen Bewegung war das Schwert aus der Scheide und die Spitze an meiner Kehle. Er erwartete, dass ich zurückspringen würde, doch das tat ich nicht. Vor wenigen Momenten war ich noch so bewegt gewesen, dass ich den Impuls verspürt hatte, ihn und seinen Vater zu umarmen. Jetzt erwiderte ich seinen Blick mit einem Gefühl des Hasses, der seinem in nichts nachstand. »Und diese feine Spitze hat er auch mit seinen erbärmlichen, aufwieglerischen Flugschriften bezahlt, nehme ich an?« Mit einem Wisch der Klinge riss er mir den Spitzenkragen ab. Unwillkürlich zuckte ich zurück. Von diesem Augenblick an ignorierten sie mich. Ich hatte eine alte Wunde aufgerissen, und mit jedem Wort rissen sie sie weiter auf.
»Ich habe diesen Jungen seit Jahren nicht gesehen, und das ist die Wahrheit!«
»Ihr seid ein alter Heuchler!«
Das Gesicht seines Vaters lief rot an, so dass ich meinte, eine Ader müsse geplatzt sein. »Wage es nicht, so mit mir zu reden, Richard!«
»Stolz? Ihr wart stolz, mich loszuwerden!«
»Das ist nicht wahr! Ich habe jedes Wort ernst gemeint!«
In Lord Stonehouse’ Stimme lag so viel Agonie, dass ich mit mir rang, ihre Auseinandersetzung zu unterbrechen und das Missverständnis aufzuklären, aber ebenso gut hätte ich versuchen können, einen Wirbelsturm aufzuhalten. Sie schoben mich zur Seite bis an die Balustrade. Unten in der Halle konnte ich die Bediensteten, die Besucher und Eaton sehen, wie sie nach oben starrten. Letzterer warf mir einen grimmigen Blick zu, doch selbst er wagte es nicht, dazwischenzugehen. Als sie sich schließlich heiser gebrüllt hatten, lief Richard die Treppe hinunter, und erst jetzt schien er die wie gebannt dastehende Menschenmenge in der Halle zu bemerken.
Lord Stonehouse stand am Kopf der Treppe. In den Adern an seinen Schläfen pochte das Blut, etwas Speichel bedeckte den Leinenkragen an seinem Hals, aber dennoch war er eine imposante, beinahe furchteinflößende Erscheinung. Er war groß und hatte nicht allzu viel Fett angesetzt. Die muskulösen Arme konnten immer noch ein Pferd bezwingen oder ein Schwert schwingen. Sein Haar war kürzer als das seines Sohnes, doch er hatte noch mehr schwarze als graue Strähnen. Er war nachlässig in Schwarz gekleidet, nur ein kleiner Orden des Heiligen Georg aus Gold und Emaille an seinem Hals, das Zeichen des Hosenbandordens, verriet seinen Rang. Vielleicht hatte er ihn angelegt, um seinen Sohn daran zu erinnern, dass er einst ein enger Vertrauter des Königs gewesen war.
»Richard! Komm zurück …« Das erste Wort war ein Befehl, die letzten beiden verwandelten sich in eine flehentliche Bitte. Richard hörte es heraus, zögerte und drehte sich um. Sein Gesicht, das ebenso hochmütig und stolz war wie das seines Vaters, spiegelte nun deutlich dieselbe Unsicherheit, das Verlangen, zurückzukehren zu dem Punkt, an dem sie auseinandergegangen waren, ehe er mich entdeckt hatte. Wenn einer von ihnen einen Schritt nach unten oder der andere einen Schritt nach oben gemacht hätte, wäre es vielleicht dazu gekommen. Doch letztlich war jeder von ihnen zu stolz, und als würde er seinen gütigen Ton bereuen, deutete Lord Stonehouse mit einem ruckartigen Kopfnicken auf sein Zimmer und sagte barsch zu seinem Sohn: »Komm!« Als Richard sich abwandte, brach die Wut aus dem alten Mann hervor: »Ich werde dich unter Arrest stellen lassen!«
Richard zog sein Schwert, die Scheide erwischte beinahe den Schreiber, der gegen sein Schreibpult fiel. »Ich sehe Euch in der Hölle, Vater«, schrie er. »Euch und den Blender!«
21. Kapitel
Man sperrte mich in eine kleine Kammer. Den ganzen langen Tag lang, nach Richards ungestümem Abgang, herrschte brütende Stille, unterbrochen nur durch flüsternde Stimmen und das Geräusch von ankommenden und abfahrenden Kutschen. Die Kammer war ein Anbau der Bibliothek und wurde zur Lagerung der Korrespondenzen mit den königlichen Familien genutzt. In einer Textpassage auf einem befleckten Blatt, die von einem Spitzel im Parlament markiert worden war, plädierte ein Familienangehöriger dafür »… die Kinder nebst dem Familiensilber aufs Land zu schaffen, ehe die Ernte eingebracht sei und diese gar elendige Angelegenheit begönne«.
Es war Abend, und die Kerzen brannten, als zwei Bedienstete mich nach oben führten. Sie gaben mir keine Antwort auf meine Fragen und würdigten mich keines Blickes. Sie wussten, wie Dienstboten stets alles wussten, dass ich das Pestkind war, und behandelten mich, als sei ich immer noch ansteckend.
Sie brachten mich in Lord Stonehouse’ Studierzimmer und deuteten auf eine Stelle in einiger Entfernung von seinem Schreibpult. Lord Stonehouse saß in einer Lichtglocke, die vom Kronleuchter über seinem Kopf gebildet wurde. Bei ihm war ein Mann, den ich für seinen Sekretär hielt und der ihm Dokumente zum Unterzeichnen vorlegte. Lord Stonehouse nahm einen Schluck Wein aus einem Glas, stieß auf, machte sich daran, ein Blatt zu unterschreiben, und hielt inne.
»Acht Pferde?«
»Acht, Mylord.«
»Ich kenne den Stall des Duke of Richmond. Er hat zwölf feine Berber. Sei so gut und finde heraus, was mit ihnen passiert ist, Mr Cole.«