Möglicherweise hatte Edward den Psalm extra für mich ausgewählt. Die Kerzenflammen in den Wandleuchtern über seiner Kanzel beugten sich mit seinen Bewegungen, als er mich anklagend anstarrte. »Herr, wende deine Plage von mir!«
»Amen«, sagte Mrs Stonehouse in ihrer Bank ganz vorn, ihre Kinder und schließlich die ganze Gemeinde taten es ihr gleich.
Edward umklammerte die Kanzel, seine Stimme klang wie die eines Racheengels. »Höre mein Gebet! Denn ich bin dein Pilgrim und dein Bürger wie alle meine Väter … lass ab von mir, dass ich mich erquicke, ehe denn ich hinfahre und nicht mehr hier sei.«
Ich erschauderte, denn obwohl die Worte an den Sarg unter ihm gerichtet waren, schienen sie direkt auf mich zu zielen. Ich fühlte, dass ich Gott gelästert hatte, als ich wie ein Dieb in der Nacht Erinnerungen stahl, die ich nie geteilt hatte. Als die Gemeinde leidenschaftlich für Mrs Morlands Seele auf ihrer letzten Reise betete, bemühte ich mich, mit einzustimmen, doch die Worte blieben mir in der Kehle stecken. Ich konnte ihre Gegenwart spüren. Sie wollte sich nicht auf die Reise begeben, solange ich dort war. Eine Böswilligkeit schien vom Sarg auszugehen, ebenso greifbar wie der klamme, süßliche Duft des Rosmarins auf seinem Deckel. Panik stieg in mir auf, und ich war kurz davor, aus der Kirche zu flüchten, als mir einfiel, dass ich sehr wohl Erinnerungen hatte, Kates Erinnerungen, die genau so wirklich für mich waren, als wären es meine eigenen. Ich konnte mir vorstellen, wie Mrs Morland das Kleid meiner Mutter hochgerissen hatte, als würde sie einen Vorhang zurückziehen, als ich das Licht der Welt erblickte.
Ich bedeckte mein Gesicht mit den Händen und betete, nicht für Mrs Morland, sondern für meine Mutter, die an diesem Ort begraben worden war, vermutlich in aller Heimlichkeit und Stille. Weinend stand ich unbeholfen und schwerfällig auf, als der Sarg angehoben und den Mittelgang hinuntergetragen wurde. Die Kinder hüpften kurz umher, um die herabfallenden Rosenblätter aufzusammeln, bis sie von ihrer Mutter zur Ordnung gerufen wurden.
Durch meinen verschwommenen Blick sah ich hinter dem schwankenden Sarg die Liste der amtierenden Pfarrer, beginnend mit Hugh Bertrand im Jahre 1112. Von 1622 bis 1625 war Mark Stevens Pfarrer. Danach klaffte eine Lücke, bis 1627, als Edward Stonehouse die Pfründe erhielt, zusammen mit der Kirche in Highpoint. Auf einmal bemerkte ich, dass ich die Menschen in meiner Bankreihe aufhielt. Alle schoben sich eilig an mir vorbei, als sei ich eine Plage, wie Edward es indirekt nahegelegt hatte, außer Henry, der seinen Hut fallen ließ. Als er ihn endlich aufgehoben hatte, hatten die meisten Trauergäste die Kirche verlassen und folgten dem Sarg.
»Upper Vale«, sagte Henry. Unsere Blicke trafen sich, und ich begriff, dass er der Kutscher gewesen sein musste, der Kate geholfen hatte, ein Feuer für meine Mutter zu entzünden, nachdem er sie zu dem abgeschiedenen Bauernhaus gefahren hatte. »Mark Stevens ist in Upper Vale.«
»Danke«, sagte ich, aber er war bereits verschwunden.
Die Kirche blieb offen, vermutlich, weil der Todesfall noch im Register notiert werden musste. Auf einem kleinen Tisch in der Sakristei lag ein gebundenes Buch, bereit für die Eintragung, daneben eine Feder und ein Horn mit Tinte. Das Buch war aufgeschlagen, der Luftzug zerrte an den Seiten, die durch ein Siegel festgehalten wurden. Ich sprang auf, als ein klapperndes Geräusch in der Kirche ertönte. Eine zinnerne Schüssel, die bei Taufen verwendet wurde, war vom Taufbecken gefallen und rollte über die Steinfliesen. Durch die Tür konnte ich erkennen, wie der Sarg in das Grab abgesenkt wurde.
In dem Buch waren die Geburten, Eheschließungen und Todesfälle im Kirchspiel seit 1604 verzeichnet, dem Jahr, in dem die Kirche versuchte, ihren Einfluss auf die Eheschließungen zu vergrößern. Vor diesem Zeitpunkt heirateten die Menschen, oder glaubten es zumindest, indem ihre Eltern sich einigten, sie sich vor Zeugen zu einander bekannten oder sogar, bei armen Leuten in abgelegenen Gegenden, die Heirat durch einen Händedruck besiegelten, alles ohne den Segen der Kirche.
Ich blätterte zurück zum Jahr 1625. Die Seiten waren zusammengeklebt. Kein Wunder, dass meine Hände zitterten. Seit diese ganze Geschichte losging, hatte ich gegen den Makel einer illegitimen Geburt zu kämpfen. Erst jetzt, als ich davor war, diesen Umstand möglicherweise zu widerlegen, begriff ich zur Gänze, wie sehr er meine Seele belastet hatte, so sehr ich auch versucht hatte, ihn kleinzureden oder mit einem Achselzucken abzutun. Ich war so fahrig, dass ich eine Seite einriss. Mühsam beherrschte ich mich. Im Jahr 1626 gab es keine Eintragungen, was ich nachvollziehen konnte, schließlich hatte es zwischen Mark Stevens Weggang und Edward Stonehouse’ Übernahme der Pfarrei eine Lücke gegeben. Doch zu meiner größten Enttäuschung gab es auch für das Jahr 1625 keine Eintragungen. Hektisch fingerte ich an den Seiten herum, überzeugt, dass zwei zusammenkleben mussten, doch dem war nicht so. Es gab keine Ehe, und ich würde für immer ein Bastard bleiben müssen. Sie hatte entweder nie stattgefunden oder war lediglich ein Hirngespinst meiner Mutter gewesen.
Dann, als ich das Buch zur letzten Seite zurückblätterte, bemerkte ich etwas, das nur jemandem auffallen konnte, der ebenso gewissenhaft ausgebildet worden war wie ich von Mr Black: ein kleines Fitzelchen Papier mit angeschnittener Kante, eingeschlossen in einen Tropfen Leim, wie eine Fliege im Bernstein. Ich drehte das Buch um, hielt es ins Licht und besah mir die Bindung genauer. Ja. Es gab keinen Zweifel. Die Seite für 1625 war entfernt und die Bindung erneuert worden. Ich war so eingenommen von meiner eigenen Klugheit, die zu dieser Entdeckung geführt hatte, dass ich nicht bemerkte, wie sich jemand in den Raum schlich, bis mir die Pistole aus dem Gürtel gerissen wurde. Ich stieß gegen den Tisch und ließ das Buch fallen, die Tinte spritzte aus dem Horn, und die Feder fiel trudelnd zu Boden.
Mit triumphierender Miene richtete Edwards Sohn Phillip die Pistole auf mich.
»Tretet zurück, Sir! Oder ich schieße!«
»Gib mir die Waffe.«
»Nein, Sir! Bleibt, wo Ihr seid, oder ich erschieße Euch!« Die Pistole war nicht gespannt, aber er musste einem Jäger zugesehen haben oder möglicherweise sogar Schießunterricht erhalten haben, denn er nestelte daran herum, um den Hahn zu spannen. Er wich zurück. Die Pistole mit dem langen Lauf war zu schwer für ihn, schwankte hin und her, doch durch Versuch und Irrtum fand er den Verschlusshebel und könnte jeden Moment feuern. Ich stürzte mich auf ihn, packte die Pistole und blockierte den Hahn mit meinem Finger. Mit einem Ruck wich er zurück, stieß sich den Kopf am Türrahmen und ging benommen zu Boden. Innerhalb eines Augenblicks verwandelte er sich von einem Mann zurück in einen Jungen, der aussah, als würde er gleich zu weinen anfangen. Als ich auf ihn zuging, um ihm zu helfen, kroch er von mir fort und schrie mir zu, dass ich, wenn ich ihn erschießen würde – und noch dazu in der Kirche –, gewiss in die Hölle käme. Ich versicherte ihm, dass ich nicht die Absicht hätte, ihn zu erschießen, obwohl er dasselbe beinahe mit mir gemacht hätte, und hätte ihm dann nicht dasselbe Schicksal gedroht?
»Nein, Sir!« Mit trotzig finsterem Blick stand er auf und hatte seinen Mut rasch wiedergefunden. »Denn ich bin gut und von edler Geburt, und Ihr seid schlecht und niederträchtig. Ihr seid ein Dieb, Sir, und das werde ich meinem Vater sagen, und der wird Euch hängen lassen!«
Ich ging in die Hocke, so dass ich genauso groß war wie er. »Ich bin kein Dieb, Phillip. Ich versuche, einen zu fangen.«
Ungläubig sah er mich an. »Wen? Was hat er gestohlen?«