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»Mich«, sagte er leise. »Das, was ich bin.« Zum ersten Mal sah er mich unsicher an. Er verstand mein Auftreten, nicht meine Worte. Ich deutete auf das Kirchenbuch. »Vielleicht kannst du deinen Vater fragen, wer die Seite mit den Eheschließungen des Jahres 1625 herausgerissen hat.«

Er starrte mich noch einen Moment lang an, ehe er unvermittelt davonrannte. Ich rief ihm nach: »Was würdest du sagen, wenn ich dein Stiefbruder wäre?«

An der Kirchentür blieb er stehen und schrie: »Ich würde Euch einen Lügner nennen, Sir!«, ehe er hinausrannte.

Eine Sache blieb noch zu tun. Ich ging zwischen den Grabsteinen hindurch. Einige waren leer, andere mit Totenschädeln oder geflügelten Engeln verziert. An der Grabstätte von Mrs Morland nahm ein Bediensteter nach dem anderen etwas Erde auf und warf sie auf den Sarg. Auch der bärtige Mann nahm eine Handvoll. Im Gegensatz zu den anderen starrte er mich auch jetzt direkt an und traf meinen Blick, doch ich hatte meine Aufmerksamkeit etwas anderem zugewandt.

Phillip sprach eindringlich auf seine Mutter ein und formte dabei eine Pistole mit seiner Hand. Vielleicht erzählte er oft Geschichten, denn mit einem Ausdruck des Unglaubens im Gesicht bemühte sie sich, ihn zum Schweigen zu bringen. Wie betäubt richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Edward, als seine Stimme schwankte und er, in der vertrautesten aller Passagen, Asche und Staub in der verkehrten Reihenfolge nannte. Die Abweichung breitete sich durch die Reihe der Trauernden aus. Zwei, die sich gerade bückten, um Erde aufzunehmen, stießen gegeneinander, einer fiel fast auf den Erdhügel und unterdrückte eilig ein Lachen. Die Regelmäßigkeit, mit der die Erde aufs Holz prasselte, war unterbrochen. Im Vorbeigehen schnappte ich auf, wie Mrs Stonehouse, die jetzt neben ihren Gatten getreten war, auf ihn einredete, er sollte die Männer für meine unverschämte Gotteslästerung auf mich hetzen.

»Seid still!«

Die beiden Worte hallten über den Friedhof. Ihr blieb der Mund offen stehen, mit der Überraschung einer Frau, mit der nie zuvor so geredet worden war. Ehe sie etwas erwidern konnte, fuhr ihr Gatte fort, er hoffe, dass Mrs Morland das ewige Leben finden würde. Er sprach schnell und trieb damit die Trauergäste an, so dass das Prasseln der Erde auf den Sargdeckel fast zu einem kontinuierlichen Geräusch wurde.

Instinktiv wandte ich mich dem nördlichen Bereich des Friedhofs zu, einem wild überwucherten Abschnitt. Als ich mich näherte, zerstreuten sich die in der Nähe grasenden Schafe, deren Glocken ein dürres Totengeläut abgaben. Hier waren die meisten Gräber eingesunken. Nur wenige hatten Grabsteine, und noch weniger waren gekennzeichnet. Kletten hingen an meinen Kniehosen, und die flauschigen weißen Samen der Gemeinen Waldrebe wirbelten um mich herum, flogen, wohin der Wind sie trug, während ich zwischen den Steinen suchte.

»Margaret Pearce liegt dort!«

Edward war hinter mir aufgetaucht. Er deutete auf einen Stein, eingeklemmt in die Trockenmauer, kaum zu erkennen zwischen Brombeeren und Gräsern. Ich riss das Gestrüpp heraus, ignorierte die Dornen und Nesseln. Der Stein trug keinen Namen, aber einmal war er zerkratzt worden, und jemand hatte mit der roten Farbe, mit der die Bauern ihre Schafe markierten, Obszönitäten darauf geschmiert. Ich fiel auf die Knie und riss weiter das Unkraut mit beiden Händen aus.

»Reiß es nur fort«, sagte Edward, »und es wird nur um so schneller sprießen. An dieser Stelle wird nichts anderes wachsen.«

Ich sprang auf. »Ich werde einen neuen Stein aufstellen lassen.«

»Das wirst du nicht.«

»Ich habe das Recht dazu.«

»Du hast keinerlei Rechte hier! Genauso wenig wie sie. Sie kann froh sein, dass sie in geweihter Erde begraben liegt. Wenn sie überhaupt noch geweiht ist! Sie hat die Erde verdorben, verflucht – nichts wird in ihr wachsen außer Unkraut!«

Seine Brust hob und senkte sich. In den Händen hielt er immer noch das Gebetbuch und zupfte gereizt an einem Riss im Rücken. Alle hatten sich vom Grab abgewandt und starrten zu uns herüber. Edwards jüngster Spross, noch im Krabbelalter, schwankte auf uns zu, ehe Phillip ihn schnappte und, seine tadelnde Mutter nachahmend, zur Gouvernante stieß.

»Wenn du nicht gehst, werde ich dich unter Arrest stellen lassen!«

»Weil ich die Aufzeichnungen über die Eheschließungen überprüft habe?«

Mrs Stonehouse kam mit entschlossenem Gesichtsausdruck auf uns zu, doch Edward drehte sich so abrupt zu ihr um, dass sie stehen blieb, ihren Hut im Wind festhielt und sich anstrengte, etwas zu verstehen.

»Warum wurde die Seite aus dem Jahr 1625 herausgerissen?«

Sämtliche Farbe wich aus seinem Gesicht, und ich glaubte schon, er würde ohnmächtig werden. Trotz allem, trotz der langen Reise, die ich unternommen hatte, um die Wahrheit herauszufinden, empfand ich Mitleid mit ihm. Mein Innerstes war ein wüstes Gewirr aus Empfindungen; Wut über seine Mitschuld an dem, was meiner Mutter zugestoßen war; Freude, weil ich vielleicht endlich meinen Vater gefunden hatte.

»Können wir woanders reden? Später?«

»Es gibt nichts zu reden!«, sagte er ungehalten.

Seine Reaktion war so heftig, seine Miene so voller Schuldgefühle, dass ich nicht verhindern konnte, dass mir das Wort über die Lippen kam. »Vater …«

Für den Bruchteil einer Sekunde nahm er es als Anrede seines Berufs, dann zuckte er zusammen, als hätte ich ihn niedergestochen. »Ich bin nicht dein Vater!« Seine Frau musste ihn gehört haben, denn jetzt eilte sie mit einem Gesichtsausdruck auf uns zu, der deutlich machte, dass selbst ein Kavallerieangriff sie nicht hätte aufhalten können.

»Die Eheschließung wurde für illegal erklärt«, sagte Edward.

»Von wem? Von Lord Stonehouse?«, sagte ich.

Plötzlich redeten wir alle auf einmal. Die Trauergäste drängten mit offenen Mündern nach vorn.

»Welche Ehe?«, sagte Edwards Frau. »Wovon redet Ihr da? Wer ist dieser Mann? Ist er der Bas…«

»Bastard? Nein, Madam«, sagte ich und nahm meinen Hut ab. »Ich denke, das dürft Ihr mich nicht länger nennen.«

Sie starrte Edward an, der sich plötzlich umwandte, nicht zu mir, sondern zum Grab meiner Mutter, über das bereits wieder Unkraut und Nesseln zu kriechen schienen. »Origo mali!«, sagte er und spie die Worte regelrecht aus. Dann wirbelte er wieder zu mir herum und verlor vollkommen die Beherrschung. »Sie war eine Betrügerin und Diebin! Sie hat mich getäuscht, damit ich zustimme, mit ihr fortzugehen, indem sie behauptete, sie habe Geld. Geld! Das Einzige an Wert, das sie besaß, war der Anhänger, den sie an jenem Nachmittag gestohlen hat. Ich hatte nichts damit zu tun, ich war nicht daran beteiligt, ganz und gar nicht. Ich war entsetzt, als sie ihn mir zeigte, entsetzt!« Seine Stimme war jetzt voller Bitterkeit. »Sie hat jeden zum Narren gehalten, und ganz gewiss hat sie mich belogen! Du bist von niederer Geburt, ich habe nichts mit dir zu schaffen, nichts! Und das ist die ganze Wahrheit!«

33. Kapitel

Er hatte allen Grund zu lügen. Seine Frau stand daneben. Seine Kinder hatten aufgehört zu spielen, blickten von Ehrfurcht ergriffen zu ihrem normalerweise freundlichen Vater empor, der mit der Gehässigkeit eines radikalen Predigers ein Tirade auf mich losließ und dabei mit dem Finger auf meiner Mutter Grab deutete. Auf ihren Gesichtern lag der Ausdruck, den Kinder haben, wenn sie die entsetzliche Vorahnung einer herannahenden Katastrophe haben, aber nicht begreifen, was oder warum es geschieht. Die beiden Jüngsten flüchteten sich in die Arme der Gouvernante, und diese sprach flüsternd auf sie ein, um sie zu trösten.

Origo mali. Die Quelle des Bösen. Er irrte sich, wenn er auf das Grab meiner Mutter deutete. Die Quelle des Bösen war überall um mich herum. Das Land. Das fruchtbare Tal unter mir, das bis Highpoint reichte und noch weiter bis zu dem Land, das einst im Besitz der Pearces gewesen war. Das war die Quelle des Bösen, der Grund für die Fehde zwischen den Stonehouses und den Pearces, die wahrscheinlich bis in die Zeiten der Tudors oder sogar noch weiter zurückreichte. Der ursprüngliche Grund war vermutlich längst vergessen, mit früheren Generationen begraben. Und ich ließ nun die Fehde wieder aufleben. Jetzt begriff ich, warum Kate mich zum Aufbruch gedrängt hatte. Wenn ich die Wahrheit herausfände, wäre es das Ende des Streits? Nein! Es würde lediglich zu noch mehr Verbitterung und weiteren Konflikten führen. Unvermittelt empfand ich ein großes Verlangen, bei Will, Luke und Ben zu sein, in einem rechtschaffenen Streit, den ich verstand, und, wenn ich überlebte, zu Anne zurückzukehren. Ich konnte sie fast in meinen Armen spüren. Ich sehnte mich nach ihr und nach London mit seinem ganzen erbärmlichen Gestank!