Doch die Sehnsucht hielt nur so lange an, bis ich mein Pferd gefunden hatte. Wenn ich davonreiten würde, wäre es nicht vorbei. Seit ich geboren wurde, hatten die Stonehouses versucht, mich zu töten. Zuerst der Vater. Dann Richard. Und jetzt drohte Edward jeden Moment der Geduldsfaden zu reißen, und er sah aus, als wäre er ebenfalls dazu in der Lage. Meine Hände, mit denen ich nach den Zügeln griff, waren rot und weiß gefleckt von den Nesseln und zerkratzt von den Brombeeren, die ich vom Grab meiner Mutter gerissen hatte. Jetzt kannte ich sie. Was immer ich sonst noch sein mochte, ich war meiner Mutter Sohn. Ich würde vollenden, was sie begonnen hatte, oder bei ihr in dieser Vorhölle aus Unkraut landen, was zu meiner Natur ebenso wie zu ihrer besser passte als irgendein behaglicher, umhegter geweihter Boden. Ich stellte mir vor, wie sie die Worte sagte, von denen Kate mir erzählt hatte: »Ich werde mir einen von ihnen schnappen … der Vater ist der Lord … aber das Vermögen geht an Richard … aber er ist ein vollkommener Rüpel … Edward ist nicht auf den Kopf gefallen, doch er ist weich wie Wasser …«
Eine Zeitlang hatte ich gedacht, ich sei Lord Stonehouse’ Sohn, doch jetzt sah es so aus, als sei Edward mein Vater. Er hatte zugegeben, dass er bereit gewesen war, mit Margaret Pearce davonzulaufen, doch als das Geld nicht kam, stahl sie den Anhänger, und das war zu viel für ihn. Er konnte nicht sehr viel älter gewesen sein als ich. Jung. Naiv. Leicht einzufangen. Und die ganze Zeit über hatte Lord Stonehouse auf seine vorsichtige, verschwiegene Art eine Leidenschaft für sie gehegt.
Mrs Morland sagte, sie habe gelacht: »Heirat! Genau darüber wollte ich mit Euch sprechen!« Lachen konnte ganz unterschiedliche Bedeutungen haben, je nachdem, wer es hörte. Mrs Morland hatte das höhnische Lachen einer Hure darin gehört. Ich hörte ein bitteres, ironisches Lachen. Wenn sie nur gewartet hätte, hätte sie sich den größten Fisch von allen geangelt.
Ich bog auf den Weg ein und ritt an der Kirche vorbei. Edward schloss gerade die Tür und sprach mit dem Küster, der das Kirchenbuch festhielt. Die Kinder, die plappernd in der Kutsche saßen, verstummten, als ich herannahte. Vielleicht erwarteten sie, dass ich ihnen folgte, so wie ich es auf dem Weg hierher getan hatte, so wie ein Brachvogel einem Reisenden durchs Moor folgt. Doch ich lenkte Patch in die entgegengesetzte Richtung.
Auf unserem Weg nach Highpoint hatte Eaton mir den Weg nach Upper Vale gezeigt, wo ich, wie der Kutscher Henry mir gesagt hatte, Mark Stevens finden würde. Von Shadwell aus war es ein Ritt von weniger als einer Stunde, doch dieser unterschied sich sehr von dem Ritt von Shadwell nach Highpoint.
Ich kam durch seltsam karges Land mit Felsen und Heidekraut, von dem nicht einmal Schafe richtig satt wurden. Seltsam, doch auf eigentümliche Weise vertraut. Es glich dem Marschland um Poplar herum; und es war ein Land fernab vom Einfluss der Stonehouse’, denn es lag außerhalb ihrer Gerichtsbarkeit.
Das Land wurde fruchtbarer, als ich von der Heide auf eine Reihe verstreut liegender kleiner Dörfer zu ritt, von denen Upper Vale das erste war. Und das erste Gebäude, ein wenig außerhalb des Ortes gelegen, war eine kleine, heruntergekommene Kirche. Die Hütte daneben sah besser aus, das Strohdach war neu, und der Schornstein rauchte. Vom Hof hinter dem Haus erscholl ein Klappern, als ich mich näherte. Vielleicht war ich ein Narr, weil ich Henry vertraute. Er wirkte aufrichtig, aber schließlich arbeitete er für Lord Stonehouse. Ich glitt aus dem Sattel, lockerte meine Pistole und schlich ums Haus. Eine plötzliche Bewegung ließ mich den Hahn meiner Pistole spannen. Ich blickte einem bemitleidenswert aussehenden Klepper in die Augen, der gerade seinen Wassereimer umgestoßen hatte. Ich stellte den Eimer wieder auf, damit er den letzten Rest Wasser bekam, und band Patch neben ihm fest.
Die Hintertür stand einladend einen Spalt weit offen. Ich erwartete immer noch eine Falle und stieß mit der Stiefelspitze dagegen. Der Luftzug brachte den Geruch eines Holzfeuers mit sich. Ich brauchte nicht lange, um festzustellen, dass die Hütte leer war. Es war nur ein Raum, mit einer Leiter zum Dachboden, wo sich die Schlafstelle befand. Das Feuer war beinahe erloschen und produzierte mehr Rauch als Wärme. Es war sauber und ordentlich, doch es gab keine Anzeichen dafür, dass hier ein Mann der Kirche wohnte: keine Bücher, keine Papiere, nur ein Regal mit Kräutern.
Als ich mich der Kirche näherte, erkannte ich, dass sie nicht heruntergekommen, sondern ausgeplündert war. Gedenktafeln waren aus ihren Verankerungen gerissen worden. Unter einem Fenster verstreut lag zersplittertes Buntglas. Die Scherben knirschten unter meinen Stiefeln, als ich den Mittelgang hinunterging. Zum Glas mischten sich Holzsplitter des Altargeländers, das man weggehackt hatte, so wie Eaton und ich es auf unserer Reise nach Highpoint bei einigen Parlamentstruppen in einem Exzess aus religiösem Eifer und Alkohol gesehen hatten. Das Geländer hatten sie als Feuerholz genommen und als Ersatz für brennende Katholiken.
Ein Mann war da, ein Geistlicher. Zuerst sah ich nur sein schwarzes Chorhemd im Luftzug flattern, der durch die zerschlagenen Fenster wehte, eine sanfte Bewegung in der Dunkelheit des Altarraums. Anfangs dachte ich, er hätte die Kanzel erklommen und starre zur Decke empor. Dann begriff ich. Er hing vom Zugbalken herunter, und der Knoten des Seils drückte seinen Kopf nach oben. Ich kroch auf die Kanzel und mühte mich ab, ihn zu erreichen. Je mehr ich es versuchte, desto mehr drehte er sich von mir fort, wie ein fehlerhaftes Pendel. Seine Hand streifte mich, als versuchte er, meine zu fassen zu bekommen. Schließlich gelang es mir, ihn zu packen und am Seil zu schneiden, doch er zog mich mit sich. Einen albtraumhaften Moment lang schwang ich mit ihm; das Seil schien lebendig zu sein und wand sich wie eine Schlange, war kurz davor, sich auch um meinen Hals zu wickeln, ehe es unter dem doppelten Gewicht riss und wir beide zu Boden fielen.
Ich brach mir einen Nagel ab, als ich das Seil von der immer tiefer werdenden roten Furche in seinem Hals kratzte. Ich konnte keinen Herzschlag feststellen. Er war kalt, und als ich seine Arme bewegte, spürte ich keinen Widerstand. Er war seit etwas mehr als einer Stunde tot, vielleicht zwei. An meinen Händen war Blut. Nein, kein Blut – Farbe. Es sah aus wie die rote Farbe, mit der auch das Grab meiner Mutter beschmiert worden war. Behutsam zog ich das zerknitterte Chorhemd glatt. Die Buchstaben waren verschmiert und unvollständig, aber ich konnte sie trotzdem entziffern: PAPIST. Nicht weit entfernt von seinem Leichnam lag ein orangefarbenes Tuch mit dem sich die Parlamentstruppen zu erkennen gaben – es war von derselben Farbe wie meines.
Ich war so entsetzt, dass ich Patchs entferntes Wiehern und Schnauben kaum wahrnahm, bis sich das Geräusch von Hufen auf Stein dazugesellte und ein Tor quietschte. Ich rannte zurück zur Hütte. Ein Mann ritt den Klepper, dem ich Wasser gegeben hatte, und führte mein Pferd vom Hof. Wenn das Tor nicht geklemmt hätte, hätte er Erfolg gehabt. Ich stürzte vorwärts und erwischte den Saum seines Umhangs. Ich erhaschte einen Blick auf einen Bart und einen Mund mit nur wenigen Zähnen, als er versuchte, mich mit der Peitsche zu schlagen. Doch ich zog ihn vom Pferd, und wir landeten zusammen auf dem Boden. Ich holte mit geballter Faust aus, ehe ich sah, wen ich vor mir hatte.