Ich begriff immer mehr, wurde indes immer bestürzter. »Aber wenn das, was Ihr ihm über John Lloyd erzählt habt, wahr ist«, platzte ich heraus, »warum macht Ihr Euch dann solche Sorgen, dass er den Anhänger finden könnte? Ihr wollt doch gewiss, dass er gefunden wird?«
»Du weißt, warum«, sagte Richard.
»Ich weiß es nicht.«
»Sag es ihm, Rich. Erzähl’s ihm«, mischte Edward sich ein. »Weil er ihn vertauschen will, natürlich!«
»Das weiß er«, sagte Richard.
»Ich weiß es nicht, ich schwöre es!«
»Lügner!« Richard schlug mich mit der Hand auf die tiefe Wunde in meinem Gesicht. »Wo ist er? Wo ist der Anhänger?«
Vertauschen? Lord Stonehouse war verschlagen, doch für ihn zählte vor allem die Blutlinie. Einer von ihnen log, wahrscheinlich beide. Irgendetwas stimmte nicht … etwas, das Kate mir erzählt hatte … Mit dem Gefühl der Benommenheit, dem Schmerz und der Verwirrung konnte ich nicht richtig denken – aber ich musste nachdenken.
Richard starrte das Porträt seines Vaters an. »Er will dich«, sagte er voll wilder Bitterkeit. »Er will dich als Erben.«
»Das ist nicht wahr.«
»Ich habe dich in der Queen Street gesehen. Gekleidet für deine Rolle.«
»Ich habe den Lakaien an der Tür hereingelegt. Euer Vater wusste nicht, dass ich dort war.«
»Lügner! Hat er dich wegen des Anhängers hier hochgeschickt? Natürlich hat er das. Wo ist er? Sag es mir! Sag es endlich!«
Jetzt war es Edward, der seinen Bruder beiseite nahm und im Flüsterton auf ihn einredete. Ich vernahm das Wort Keller. Sie mussten Mr Blacks Berichte über die Ängste meiner Kindheit gesehen haben, über den Keller und die Ratten. Meine Gedärme begannen sich bei dem Gedanken daran zusammenzuziehen. Sie grinsten und wisperten wie zwei grausame Schuljungen, die eine neue Folter für ihr Opfer erfanden.
»Eddie!« Richard schlug triumphierend auf den Schreibtisch. »Das ist ein Streich! Das ist genial! Ich habe schon immer gesagt, dass du das Gehirn der Familie bist!«
Edward strahlte, und ich erkannte, dass es keine größere Freude im Leben für ihn gab, als von seinem älteren Bruder gelobt zu werden. Dieser befahl einem Soldaten, Bryson zu holen. Ich hatte keine Ahnung, wer Bryson war, und als sich herausstellte, dass er der Bärtige war, der bei Mrs Morlands Beerdigung ein gewisses Interesse an mir gezeigt hatte, war ich zunächst auch nicht klüger. Dann, wie ein plötzlicher Schlag auf den Kopf, fiel mir ein, wo ich ihn zuvor gesehen hatte. Es war in Oxford gewesen, als Eaton den Ort verlassen und an der Pestgrube angehalten hatte, um mit dem Mann, der die Leichen aus dem Karren hob, darüber zu plaudern, wie die Geschäfte liefen. Bryson war der Fahrer des Pestkarrens.
37. Kapitel
Es brauchte vier Soldaten, um mich unten zu halten. Richard gewann seine Beherrschung wieder, während ich sie verlor. Ich bekam einen Schlag auf den Kopf und verlor beinahe die Besinnung. Nur verschwommen bekam ich mit, dass er Befehle erteilte für seinen Ritt in Richtung Norden zum König. Er wies Gardiner an, mich mit Bryson zusammen zur Grube zu bringen, zuversichtlich, dass ich schon reden würde, sobald ich den Kalk röche. Womit er sich nicht irrte.
Die bittere Kälte draußen brachte mich wieder auf die Beine. Sie fesselten mir die Hände, und Gardiner und ein Soldat namens Nat stießen mich durch die Bäume. Nat fuhr erschrocken zurück, als aus der Dunkelheit ein Mann auftauchte, der kein Gesicht zu haben schien. Der Mann trat in einen vom Mondlicht erhellten Flecken und wurde zu Bryson. Er trug eine Maske, die nur seine Augen freiließ, sowie einen langen Lederumhang. Dieser erinnerte mich an meinen alten Josephmantel und trug die Spuren seiner Arbeit, Flecken, die ihn wie eine altertümliche Weltkarte aussehen ließen.
»Es ist genau hinter den Bäumen, Captain«, sagte er.
Gardiner blieb kurz stehen. »Hast du noch eine Maske?«
»Nee, tut mir leid.« Brysons Augen blitzten beruhigend auf. »Euch passiert nichts. Gab dieses Jahr nicht viel Kundschaft. Is’ nur ’ne Gewohnheit von mir, mehr nicht. Haltet einfach nur genug Abstand.«
Nat sah alles andere als beruhigt aus, als er mich weiter vorwärtsstieß. Das Pferd, das vor den Pestkarren gespannt war, blickte kurz auf und graste dann friedlich weiter. Ein leichter Gifthauch, der charakteristische Geruch der Pest, haftete dem Karren an, ein saurer Gestank nach Eiter und Schweiß, vermischt mit dem milchig-süßen Geruch des Kalks. Die Klappe des Karrens war geöffnet, und auf dem vergammelten Stroh konnte ich zwei Leichen erkennen. Es waren Männer, beinahe nackt. Im tiefen Schatten sah es aus, als seien sie zerstückelt worden. Ich erhaschte einen Blick auf ein verfaulendes Gesicht, durch das schon der im Mondlicht silbrige Knochen hindurchschimmerte, und einen verdrehten, halbverwesten Arm. Nat murmelte ein Gebet, und selbst Gardiner wandte sich ab.
Bryson hob die Leichen an, als wären es Säcke mit Rüben, um auf dem nassen dunkelbraunen Stroh Platz zu schaffen. »Habe ich Euch nicht gesagt, dass ich schon zwei Fahrgäste habe, Captain?«
Gardiner schluckte und fand zu seiner üblichen Großtuerei zurück. »Ach ja. Ich hatte es vergessen. Das hast du. Also los«, schnauzte er Nat an. »Steh nicht so rum. Rauf mit ihm!«
Bryson zündete eine Tonpfeife an, hob die Maske, um ein paarmal paffend daran zu ziehen, und sagte, es sei eine spezielle Mischung aus Virginiatabak und Kräutern, gut gegen Pest, Pocken und diverse andere Beschwerden.
Gardiner beugte sich über mich und sagte freundlich, beinah im Konversationston: »Hör zu, Tom. Du kennst die Pest. Das Schreifieber.«
»Blutiges Erbrechen«, sagte Bryson.
»Schwarze Beulen.«
Gardiner deutete nickend zum Karren. »Das ist nur ein Vorgeschmack auf das, was auf dich zukommt. Am Ende wirst du reden, warum also bist du nicht vernünftig und redest jetzt, hm?«
Ich starrte zu ihm empor. Ich wusste, dass ich so gut wie tot wäre, wenn sie mich in den Leichenkarren werfen würden. Wenn sie mich zum Haus zurückbrächten, hätte ich noch eine Chance. Wie gering diese auch sein mochte. Doch ich wollte lieber rasch sterben als langsam an der Pest.
»Da haben wir’s«, sagte Gardiner, als Tränen meine Augen benetzten, so sehr ich auch versuchte, sie zurückzuhalten. Es war die Freundlichkeit, die plötzliche Normalität, wie fadenscheinig sie auch immer sein mochte, die das bewirkte. Das und meine völlige Erschöpfung. »Sag es uns, und du bekommst einen heißen Birnenmost mit Zucker.«
»Und Gewürzen«, sagte Bryson und schmatzte mit den Lippen.
»Und Gewürzen. Besser ein lebendiger Bastard als ein toter Stonehouse, was?« Beruhigend tätschelte Gardiner meine Wange. Möglicherweise war es ein Tätscheln. Vielleicht gab er damit auch Bryson ein Zeichen. Womöglich war es auch die Erinnerung an all die Momente, in denen ich mich George beinahe ergeben hatte, um dann doch einen Wutanfall zu bekommen, der ebenso sehr meiner eigenen Schwäche galt wie ihm. Was immer es war, besinnungsloser Zorn erfüllte mich. Ich biss ihn. Er brüllte vor Schmerz auf, als meine Zähne sich um seinen Finger schlossen, und wich ruckartig zurück. Doch ich ließ nicht los, ehe er mich halb vom Boden anhob und mein eigenes Gewicht meine Zähne wegriss, zusammen mit einem Teil seines Fleisches. Gardiner saugte an seinem zerfetzten Finger und starrte darauf, ehe er mir zwei brutale Tritte versetzte. Bryson nahm die Pfeife aus dem Mund. Er und der Soldat musterten mich respektvoll.