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»Willst du immer noch, dass ich sie öffne?«

»Ja.«

Er hob eine Schublade hoch. »Sieh her. Fällt dir auf, dass sie unterschiedlich dick sind?«

Ich riss sie ihm aus der Hand und hätte sie fast zertrümmert, doch er hielt mich auf und zeigte mir mit aufreizender Langsamkeit die sorgfältig verleimten Holzpfropfen, welche die Holzschrauben verbargen. Es schien ewig zu dauern, bis er die Pfropfen und Schrauben entfernt und den falschen Boden herausgenommen hatte. Auf einem Kissen aus Samt lag der Stonehouse-Anhänger. Es war, als stünde das Zimmer in Flammen. Ich zuckte zusammen, als der Falke mit seinem smaragdgrünen Schnabel nach mir zu hacken schien. Sein Nest war ein riesiger polierter Rubin, umgeben von einem Miniaturwald aus emaillierten Blumen und Insekten, eingefasst in einen goldenen Rahmen.

Jetzt versuchte Matthew mich nicht mehr aufzuhalten. Welche Kräfte mich auch immer zu dem Anhänger hingezogen hatten, sie brachten ihn nun zum Schweigen. Er beobachtete mich, während ich angestrengt überlegte, welche Juwelen Lucy Hay gedrückt hatte, und in welcher Reihenfolge. Am Rand des Miniaturwaldes gab es zwei kleine Smaragde, deren Grün dunkler war als bei den anderen, Jadegrün hatte sie es genannt. Ich hielt einen fest und drückte dann den anderen. Ich zog den Kopf ein, als der Falke mich fast am Auge traf. Der Rubin war aus seiner Halterung gesprungen und gab den Blick auf eine ovale Aushöhlung frei, in der man ein Porträt aufbewahren oder hineinmalen konnte. Doch es gab kein Porträt.

Ich hatte das Märchen vom Bild meines Vaters, das mir entgegenstarren würde, so vollkommen akzeptiert, dass ich mich fassungslos hinsetzte, unfähig zu glauben, dass dort nichts war, unfähig zu erkennen, was dort war.

»Sieh mal«, sagte Matthew und deutete auf ein kleines zusammengefaltetes Stück Papier, eingeklemmt am Boden des Fachs.

Ich erinnerte mich daran, was meine Mutter nach Kates Worten gesagt hatte: Wenn mir irgendetwas zustößt, gib das dem Kind. Im Porträtfach ist der Beweis, wer der Kindsvater ist. Kein Porträt, aber ihr »Beweis«, was immer das sein mochte.

Vorsichtig holte ich das Papier heraus und faltete es auseinander. Ich erwartete einen Namen, doch wie bei den Irrlichtern kam ich der Wahrheit zwar stetig näher, doch nur solange, bis sie mir erneut auswich. Es war kein Name, sondern eine Art Geheimcode. Mein Blick verschwamm, als ich mich abmühte, die Buchstaben zu lesen, denn Märchen waren überzeugend und einfach, aber letztendlich töricht. Wo hätte meine Mutter, in den Wirren jenes Tages und Abends, ein Porträt meines Vaters hernehmen sollen, um es in den Anhänger zu legen, den sie gestohlen hatte? Was tatsächlich geschehen war, musste wesentlich ergreifender gewesen sein. Die zittrigen Buchstaben hatten eine verblichene braune Farbe und sahen nicht aus, als seien sie mit Tinte geschrieben worden. Von irgendwoher hatte sie diesen Fetzen Papier ergattert und mit dem Blut meiner Geburt zwei Wörter aufgeschrieben, vielleicht mit dem Fingernagel. Das zweite Wort war so heftig verschmiert, dass ich nur den ersten Buchstaben entziffern konnte.

GRENZ-B

Ich las es Matthew vor. Er starrte den Anhänger an, dann auf den Boden und kratzte sich am Bart.

»Was bedeutet das?«

Statt einer Antwort brachte Matthew mich in das Wäldchen, in dem wir am Abend zuvor unsere Pferde festgemacht hatten. Sie hatten sich befreit, doch ich rief nach Patch und fand sie schließlich zusammen mit dem anderen Pferd. Wir ritten dorthin, wo bis zu meiner Geburt die Grenze zwischen dem Land der Pearces und der Stonehouse’ verlaufen war. Jetzt waren die Zäune verschwunden. Das ganze Land gehörte den Stonehouses, doch Matthew wusste genau, wo die alte Grenze gewesen war. Wir banden unsere Pferde an einem Bach fest, für den, wie er sagte, Eaton die Quelle wieder freigelegt hatte, nachdem Kate ihn aus der Falle befreit hatte. Wir folgten dem Bach flussaufwärts und kamen an einen gut ausgetretenen Pfad, der ihn kreuzte. Es war eine unerwartet geschützte Stelle, jene Art von Versteck, die Kinder in Entzücken versetzte. Eine Baumgruppe wuchs über einer hervorragenden Felszunge, unter der sich eine kleine Höhle befand. Der Pfad führte direkt darunter entlang, hügelabwärts nach Highpoint und in die andere Richtung hinauf zu den Ruinen von etwas, das einmal ein Haus gewesen war.

»Was ist das?«

Die Höhle war verschüttet, und Matthew räumte die Steine beiseite. Er sah sich kurz um und fuhr dann fort, die Steine wegzuräumen, ehe er antwortete. »Dort hat deine Mutter gelebt.«

Ich folgte dem Pfad ein kleines Stück, bis ich anhand der alten Fundamente erkennen konnte, dass es einst ein beachtliches Herrenhaus gewesen sein musste. Die Steine waren für andere Gebäude fortgeschafft worden, bis nur noch ein dachloser, von Efeu überwucherter Flügel übrig geblieben war. In ein paar Jahren würde auch er verschwunden sein. Langsam wanderte ich im schneidenden Wind zurück, der an meinem Hut und Umhang zerrte. Das musste der Pfad gewesen sein, den meine Mutter nach Highpoint genommen hatte oder zu dieser Stelle, um ihren Liebhaber zu treffen. Oder die Liebhaber. Ich sollte mir einen von ihnen schnappen, Kate. Was meinst du, wer es sein sollte?

Matthew hatte den Eingang der Höhle nun freigelegt. Er kroch hinein, in den tieferen, schattigen Teil, und tastete die Wand ab.

»Hat sie sich hier mit ihren Liebhabern getroffen?«

Er kratzte sich am Kopf. »Ich erinnere mich, dass sie hier ihren Vetter getroffen hat.«

»John Lloyd?«

»Genau den.«

»Wann ist er aus Irland zurückgekommen?«

»Überhaupt nicht. Er wurde bei den Kämpfen dort getötet.« Matthew schnitt sich am Finger, fluchte und saugte daran. »Ich habe immer die Kräuter für sie hier hinterlegt.«

»Liebestränke?«

»Etwas in der Art.«

Während ich als Kind alles, was er sagte, geschluckt hatte, bemerkte ich jetzt die Veränderung in seinem Tonfall, sein ausweichendes Grinsen. »Etwas in der Art, um mich loszuwerden?«

Er tastete noch einen Moment herum, ehe er sagte: »Hat nicht besonders gut geklappt, was? … Ah!« Er hatte die Nische gefunden, nach der er gesucht hatte, entfernte den Stein vor der Öffnung und griff mit den Fingern tiefer hinein, um etwas herauszupulen. Ich schnappte es ihm aus der Hand. Es war ein kleiner Topf, notdürftig mit einem Feuerstein verschlossen. B. Das B stand für Briefe! Im Inneren des Topfes war ein kleines Bündel davon. Ich las sie, genau an jener Stelle, an der meine Mutter sie gesammelt hatte. Ich erkannte die Handschrift sofort, und alles, was ihr in jenem Jahr zugestoßen war – und mir, der ich in ihr heranwuchs – breitete sich vor mir aus.

Teil III

Edgehill

Oktober 1642 – April 1643

39. Kapitel

Ein weiteres Mal kamen Matthew und ich an eine Weggabelung. Wieder zeigte er mit seiner Peitsche den Weg an. Der eine führte nach Warwickshire, der andere nach London. Erneut flehte er mich an, mit ihm zusammen die Straße nach Süden zu nehmen, doch der Anhänger, den ich jetzt an meiner Haut trug, wie Matthew es einst getan hatte, zog mich gleich einem Kompass nach Norden. Schweigend umarmten wir einander fest, dann blickte ich ihm schweren Herzens nach, bis er auf der Straße, die er vor siebzehn Jahren mit dem Pestkarren genommen hatte, nicht mehr zu sehen war.

Südlich von Worcester stieß ich auf den Tross der Parlamentstruppen. Niemand wusste, wohin sie zogen – oder wenn sie es wussten, sagten sie es mir nicht. Als ich an einem ziemlich großen Gasthaus vorbeikam, hatte ich eine Eingebung. Eaton hatte stets das wichtigste Gasthaus einer Stadt angesteuert. Der Wirt hatte die Tür gegen die Soldaten verbarrikadiert, doch als ich unablässig dagegenhämmerte, öffnete er sie, wenn auch nur, um mir eine Pistole unter die Nase zu halten. Ich sagte, mein Name sei Eaton, und ich sei ihm Auftrag von Lord Stonehouse unterwegs. Er senkte die Pistole ein Stück, starrte meine Narbe an, schenkte mir ein kleines Bier ein und gab mir eine Nachricht, die mit dem vertrauten Falken versiegelt war.