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Das Mädchen trat heran und sah mir über die Schulter.

»Warum sitzen Sie immer so allein, Herr Camenzind?«

Es ärgerte mich. Sie fühlt sich von den Herren vernachlässigt, dachte ich, und nun kommt sie zu mir.

»Nun, bekomme ich keine Antwort?«

»Verzeihung, Fräulein; aber was soll ich denn antworten? Ich sitze allein, weil es mir Spaß macht.«

»Dann störe ich Sie also?«

»Sie sind komisch.«

»Danke; ist aber ganz gegenseitig.«

Und sie setzte sich. Ich hielt beharrlich mein Blatt in den Fingern.

»Sie sind doch vom Oberland«, sagte sie. »Ich möchte Sie gern einmal von dort erzählen hören. Mein Bruder sagt, in Ihrem Dorf gebe es bloß einen Familiennamen, lauter Camenzinds. Ist das wahr?«

»Beinah«, knurrte ich. »Es gibt aber auch einen Bäcker, der Füßli heißt. Und einen Gastwirt namens Nydegger.«

»Und sonst nichts als Camenzind! Und die sind alle miteinander verwandt?«

»Mehr oder weniger.«

Ich reichte ihr die Zeichnung hin. Sie hielt das Blatt fest, und ich bemerkte, daß sie es verstand, so etwas richtig anzufassen. Das sagte ich ihr.

»Sie loben mich«, lachte sie, »aber wie ein Schullehrer.«

»Wollen Sie das Blatt nicht auch ansehen?« fragte ich grob. »Sonst kann ich es zurücklegen.«

»Was stellt es denn vor?«

»San Clemente.«

»Wo?«

»Bei Fiesole.«

»Sie sind dort gewesen?«

»Ja, mehrmals.«

»Wie sieht das Tal aus? Das hier ist Ja nur ein Ausschnitt.«

Ich dachte nach. Die ernste, herbschöne Landschaft trat vor meinen Blick, und ich schloß die Augen halb, um sie festzuhalten. Es dauerte eine Weile, ehe ich zu sprechen begann, und es tat mir wohl, daß sie stillblieb und wartete. Sie begriff, daß ich nachdachte.

Und ich schilderte San Clemente, wie es schweigend, dürr und großartig im Brand des Sommernachmittags liegt. Nebenan in Fiesole treibt man Industrie, flicht Strohhüte und Körbe, verkauft Souvenirs und Orangen, betrügt die Reisenden oder bettelt sie an. Weiter unten liegt Florenz und umfaßt eine Flut alten und neuen Lebens. Aber beide sieht man von Clemente aus nicht. Dort haben keine Maler gearbeitet, dort ist kein Römerbau gewesen, die Geschichte vergaß das arme Tal. Aber dort kämpft die Sonne und der Regen mit der Erde, dort erhalten sich schiefe Pinien mühsam am Leben, und die paar Zypressen fühlen mit hageren Wipfeln in die Luft, ob nicht der feindliche Sturm nahe sei, der ihnen das karge Leben verkürzt, an dem sie mit dürstenden Wurzeln hängen. Es fährt zuweilen ein Ochsenwagen von den nahe liegenden großen Meierhöfen vorbei, oder eine Bauernfamilie pilgert Fiesole entgegen, aber sie sind nur zufällige Gäste, und die roten Röcke der Bauernweiber, die sonst so flott und lustig aussehen, stören hier, und man vermißt sie gern.

Und ich erzählte, wie ich als junger Mensch mit einem Freunde dort wanderte, zu Füßen der Zypressen lag und mich an ihre hageren Stämme lehnte, und wie der traurig-schöne Einsamkeitszauber des seltsamen Tales mich an die heimatlichen Schluchten erinnerte.

Wir schwiegen eine Weile.

»Sie sind ein Dichter«, sagte das Mädchen.

Ich schnitt eine Grimasse.

»Ich meine es anders«, fuhr sie fort. »Nicht weil Sie Novellen und dergleichen schreiben. Sondern weil Sie die Natur verstehen und liebhaben. Was ist es anderen Leuten, wenn ein Baum rauscht oder ein Berg in der Sonne glüht? Aber für Sie ist ein Leben darin, das Sie mitleben können.«

Ich antwortete, daß niemand »die Natur verstehe« und daß man mit allem Suchen und Begreifenwollen nur Rätsel findet und traurig wird. Ein in der Sonne stehender Baum, ein verwitternder Stein, ein Tier, ein Berg – sie haben ein Leben, sie haben eine Geschichte, sie leben, leiden, trotzen, genießen, sterben, aber wir begreifen es nicht.

Indes ich sprach und mich ihres geduldig stillen Aufmerkens freute, begann ich sie zu betrachten. Ihr Blick war auf mein Gesicht gerichtet und wich dem meinen nicht aus. Ihr Gesicht war ganz ruhig, hingegeben und von der Aufmerksamkeit ein wenig gespannt. Wie wenn ein Kind mir zuhörte. Nein, sondern wie wenn ein Erwachsener im Zuhören sich vergißt und, ohne es zu wissen, Kinderaugen bekommt. Und während des Betrachtens entdeckte ich allmählich mit naiver Finderfreude, daß sie sehr schön war.

Als ich nicht mehr sprach, blieb auch das Mädchen still. Dann schreckte sie auf und blinzelte ins Lampenlicht.

»Wie heißen Sie eigentlich, Fräulein?« fragte ich und dachte nicht viel dabei.

»Elisabeth.«

Sie ging weg und wurde bald darauf genötigt, Klavier zu spielen. Sie spielte gut. Aber da ich hinzutrat, sah ich, daß sie nicht mehr so schön war.

Als ich die behaglich altmodische Treppe hinabstieg, um nach Hause zu gehen, hörte ich ein paar Worte vom Gespräch zweier Maler, welche in der Hausflur ihre Mäntel anlegten.

»Na ja, er hat sich den ganzen Abend mit der hübschen Lisbeth beschäftigt«, sagte einer und lachte.

»Stille Wasser!« meinte der andere. »Er hat sich nicht das Schlechteste ausgesucht.«

Also die Affen sprachen schon darüber. Es fiel mir plötzlich ein, daß ich, fast wider Willen, diesem fremden jungen Mädchen intime Erinnerungen und ein ganzes Stück meines inneren Lebens preisgegeben hatte. Wie kam ich dazu? Und nun schon die bösen Mäuler! – Bande!

Ich ging weg und betrat monatelang das Haus nicht mehr. Zufällig war eben einer von jenen zwei Malern der erste, der mich auf der Straße darüber zur Rede stellte. »Warum gehen Sie denn nicht mehr hin?«

»Weil ich das verdammte Klatschen nicht leiden kann«, sagte ich.

»Ja, unsere Damen!« lachte der Kerl.

»Nein«, antwortete ich, »ich meine die Männer, und speziell die Herren Maler.«

Elisabeth sah ich in diesen Monaten nur ganz wenigemal auf der Straße, einmal in einem Kaufladen und einmal in der Kunsthalle. Gewöhnlich war sie hübsch, doch nicht schön. Die Bewegungen ihrer überschlanken Gestalt hatten etwas Apartes, das sie meistens schmückte und auszeichnete, manchmal aber auch etwas übertrieben und unecht aussehen konnte. Schön, überaus schön war sie damals in der Kunsthalle. Sie sah mich nicht. Ich saß ausruhend beiseite und blätterte im Katalog. Sie stand in meiner Nähe vor einem großen Segantini und war ganz in das Bild versunken. Es stellte ein paar auf mageren Matten arbeitende Bauernmädchen dar, hinten die zackig jähen Berge, etwa an die Stockhorngruppe erinnernd, und darüber in einem kühlen, lichten Himmel eine unsäglich genial gemalte, elfenbeinfarbene Wolke. Sie frappierte auf den ersten Blick durch ihre seltsam geknäuelte, ineinandergedrehte Masse; man sah, sie war eben erst vom Winde geballt und geknetet und schickte sich nun an zu steigen und langsam fortzufliegen. Offenbar verstand Elisabeth diese Wolke, denn sie war ganz dem Anschauen hingegeben. Und wieder war ihre sonst verborgene Seele in ihr Gesicht getreten, lachte leise aus den vergrößerten Augen, machte den zu schmalen Mund kindlich weich und hatte die überkluge herbe Stirnfalte zwischen den Brauen geebnet. Die Schönheit und Wahrhaftigkeit eines großen Kunstwerkes zwang ihre Seele, selbst schön und wahrhaftig und unverhüllt sich darzustellen. Ich saß still daneben, betrachtete die schöne Segantiniwolke und das schöne, von ihr entzückte Mädchen. Dann fürchtete ich, sie möchte sich umwenden, mich sehen und anreden und ihre Schönheit wieder verlieren, und ich verließ den Saal schnell und leise.

Um jene Zeit begann meine Freude an der stummen Natur und mein Verhältnis zu ihr sich zu verändern. Immer wieder streifte ich durch die wundervolle Umgebung der Stadt, am liebsten in den Jura hinein. Ich sah immer wieder die Wälder und Berge, Matten, Obstbäume und Gebüsche stehen und auf irgend etwas warten. Vielleicht auf mich, jedenfalls aber auf Liebe.

Und so begann ich diese Dinge zu lieben. Es kam ein starkes, dürstendes Verlangen in mir ihrer stillen Schönheit entgegen. Auch in mir drängte ein tiefes Leben und Sehnen dunkel empor und suchte nach Bewußtsein, nach Verstandenwerden, nach Liebe.

Viele sagen, sie »lieben die Natur«. Das heißt, sie sind nicht abgeneigt, je und je ihre dargebotenen Reize sich gefallen zu lassen. Sie gehen hinaus und freuen sich über die Schönheit der Erde, zertreten die Wiesen und reißen schließlich eine Menge Blumen und Zweige ab, um sie bald wieder wegzuwerfen oder daheim verwelken zu sehen. So lieben sie die Natur. Sie erinnern sich dieser Liebe am Sonntag, wenn schönes Wetter ist, und sind dann gerührt über ihr gutes Herz. Sie hätten es ja nicht nötig, denn »der Mensch ist die Krone der Natur«. Ach ja, die Krone!

Also ich blickte immer begieriger in den Abgrund der Dinge. Ich hörte den Wind vieltönig in den Kronen der Bäume klingen, hörte Bäche durch Schluchten brausen und leise stille Ströme durch die Ebene ziehen, und ich wußte, daß diese Töne Gottes Sprache waren, und daß es ein Wiederfinden des Paradieses wäre, diese dunkle, urschöne Sprache zu verstehen. Die Bücher wissen davon wenig, nur in der Bibel steht das wunderbare Wort vom »unaussprechlichen Seufzen« der Kreatur. Doch ahnte ich, daß zu allen Zeiten Menschen, gleich mir von diesem Unverstandenen ergriffen, ihr Tagewerk verlassen und die Stille aufgesucht hatten, um dem Liede der Schöpfung zu lauschen, das Ziehen der Wolken zu betrachten und in rastloser Sehnsucht dem Ewigen anbetende Arme entgegenzustrecken, Einsiedler, Büßer und Heilige.

Bist du nie in Pisa gewesen, im Camposanto? Dort sind die Wände mit blaßgewordenen Bildern vergangener Jahrhunderte geschmückt, und eines davon zeigt das Leben der Einsiedler in der thebaischen Wüste. Das naive Bild strömt noch heute mit seinen verblaßten Farben den Zauber eines so seligen Friedens aus, daß du ein plötzliches Leid empfindest, und daß es dich verlangt, deine Sünden und deine Unreinheit irgendwo in heiliger Weltferne von dir zu weinen und nicht wiederzukommen. Unzählige Künstler haben so versucht, ihr Heimweh in seligen Bildern auszusagen, und irgendein kleines liebes Kinderbildchen von Ludwig Richter singt dir dasselbe Lied wie die Fresken von Pisa. Warum hat Tizian, der Freund des Gegenwärtigen und Körperlichen, seinen klaren und gegenständlichen Bildern manchmal jenen Hintergrund vom süßesten Ferneblau gegeben? Es ist nur ein Strich tiefblauer, warmer Farbe, man sieht nicht, ob er ferne Gebirge oder nur den unbegrenzten Raum bedeuten will. Tizian, der Realist, wußte es selbst nicht. Er tat es nicht, wie die Kunsthistoriker wissen wollen, aus Gründen der Farbenharmonik, sondern es war sein Tribut an das Unstillbare, das verborgen auch in der Seele dieses Frohen und Glücklichen lebte. So, schien mir, war die Kunst zu allen Zeiten bemüht gewesen, dem stummen Verlangen des Göttlichen in uns eine Sprache zu schenken.