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Als nämlich der Sarg gesegnet und versenkt und die wunderliche Schar wehmütig altmodischer, borstiger Zylinderhüte verschwunden war, auch der meines Alten, jeder in seine Schachtel und seinen Schrank, da wandelte meinen armen Vater eine Schwäche an. Er begann plötzlich sich selbst zu bemitleiden und hielt mir in sonderbaren, großenteils biblischen Redewendungen sein Elend vor, daß er nun, da sein Weib begraben sei, auch noch seinen Sohn verlieren und in die Fremde fahren sehen müsse. Es nahm kein Ende, ich hörte erschrocken zu und war beinahe bereit, ihm das Dableiben zu versprechen.

In diesem Augenblick, ich hatte schon zur Antwort angesetzt, geschah mir etwas Merkwürdiges. Es erschien mir plötzlich, in einer einzigen Sekunde, alles das, was ich von klein auf gedacht und erwünscht und sehnlich erhofft hatte, zusammengedrängt vor einem plötzlich auf getanen innerlichen Auge. Ich sah große, schöne Arbeiten auf mich warten, zu lesende Bücher und zu schreibende Bücher. Ich hörte den Föhn gehen und sah ferne, selige Seen und Ufer in südlichen Farben erglänzend liegen. Ich sah Menschen mit klugen, geistigen Gesichtern wandeln und schöne, feine Frauen, sah Straßen laufen und Pässe über Alpen führen und Eisenbahnen durch Länder hasten, alles zugleich und jedes doch für sich und deutlich, und hinter allem die unbegrenzte Ferne eines klaren Horizontes, von treibenden Flugwolken durchschnitten. Lernen, schaffen, schauen, wandern – die ganze Fülle des Lebens glänzte in flüchtigem Silberblick vor meinem Auge auf, und wieder wie in Knabenzeiten zitterte etwas in mir mit unbewußt mächtigem Zwang der großen Weite der Welt entgegen.

Ich schwieg und ließ den Vater reden, schüttelte nur den Kopf und wartete, bis sein Ungestüm ermüdete. Das geschah erst am Abend. Nun erklärte ich ihm meinen festen Entschluß, zu studieren und meine künftige Heimat im Reich des Geistes zu suchen, von ihm aber keine Unterstützung zu begehren. Er drang denn auch nicht weiter in mich und sah mich nur wehleidig und kopfschüttelnd an. Denn auch er begriff, daß ich von jetzt an eigene Wege gehen und seinem Leben schnell vollends fremd werden würde. Als ich heute beim Schreiben mich des Tages erinnerte, sah ich meinen Vater wieder so, wie er an jenem Abend im Stuhl beim Fenster saß. Sein scharfer, kluger Bauernkopf steht unbeweglich auf dem dünnen Hals, das kurze Haar beginnt zu grauen, und in den harten, strengen Zügen kämpft mit der zähen Männlichkeit das Leid und das hereinbrechende Alter.

Von ihm und von meinem damaligen Aufenthalt unter seinem Dach bleibt mir noch ein kleines, nicht unwichtiges Ereignis zu erzählen. In der letzten Woche vor meiner Abreise setzte eines Abends mein Vater seine Mütze auf und nahm den Türgriff in die Hand. »Wo gehst du hin?« fragte ich. – »Geht's dich was an?« sagte er. – »Könntest mir's auch sagen, wenn's nichts Unrechtes ist«, meinte ich. Da lachte er und rief: »Kannst auch mitkommen, bist ja keiner von den Kleinsten mehr.« So ging ich denn mit. Ins Wirtshaus. Ein paar Bauern saßen da vor einem Krug Hallauer, zwei fremde Fuhrleute tranken Absinth, ein Tisch voll junger Burschen spielte Jaß und spektakelte mächtig.

Ich war gewohnt, zuweilen ein Glas Wein zu trinken, doch war es nun zum erstenmal, daß ich ohne Not ein Schankhaus betrat. Daß mein Vater ein gediegener Zecher sei, wußte ich vom Hörensagen. Er trank viel und gut, und dadurch blieb sein Hauswesen, ohne daß er es sonst ernstlich vernachlässigt hätte, immer in einer hoffnungslosen Kümmerlichkeit stecken. Es fiel mir auf, wieviel Achtung ihm von Wirt und Gästen gezeigt wurde. Er ließ einen Liter Waadtländer bringen, hieß mich einschenken und belehrte mich darüber, wie das zu machen sei. Man müsse niedrig einschenken, dann den Strahl mäßig verlängern und zum Schluß die Flasche wieder so tief als möglich senken. Darauf begann er von verschiedenen Weinen zu erzählen, die er kannte und die er bei seltenen Gelegenheiten, wenn er etwa einmal zur Stadt oder ins Welsche hinüberkam, zu genießen pflegte. Er sprach mit ernster Achtung vom tiefroten Veltliner, von welchem er drei Arten unterschied. Hierauf kam er mit leiserer, eindringender Stimme auf gewisse Waadtländer Flaschenweine zu sprechen. Fast flüsternd und mit der Miene eines Märchenerzählers berichtete er zuletzt vom Wein von Neuchâtel. Von diesem gäbe es Jahrgänge, deren Schaum beim Einschenken im Glase einen Stern bilde. Und er zeichnete den Stern mit angefeuchtetem Zeigefinger auf den Tisch. Dann versank er in ungeheuerliche Mutmaßungen über das Wesen und den Geschmack des Champagners, den er nie getrunken hatte und von welchem er glaubte, daß eine Flasche davon zwei Mann stocksternhagelbetrunken mache.

Verstummend und nachdenklich zündete er sich eine Pfeife an. Dabei bemerkte er, daß ich nichts zu rauchen habe, und gab mir zehn Rappen für Zigarren. Und dann saßen wir einander gegenüber, bliesen uns den Rauch ins Gesicht und tranken langsam schlürfend den ersten Liter leer. Der gelbe, pikante Waadtländer schmeckte mir vorzüglich. Allmählich wagten die Bauern am Nebentisch sich mit ins Gespräch, und schließlich siedelte einer nach dem andern räuspernd und vorsichtig zu uns über. Bald kam auch ich in den Mittelpunkt, und es zeigte sich, daß mein Ruf als Bergsteiger noch nicht vergessen war. Allerlei verwegene Aufstiege und tolle Abstürze, in mythische Nebel gehüllt, wurden erzählt, bestritten und verteidigt. Mittlerweile waren wir schon fast mit dem zweiten Liter fertig, und mir sauste das Blut in den Augen. Ganz gegen meine Natur begann ich laut zu prahlen und erzählte auch die freche Kletterei an der oberen Sennalpstockwand, wo ich die Alpenrosen für Rösi Girtanner geholt hatte. Man glaubte mir nicht, ich beteuerte, man lachte, ich ward zornig. Ich forderte jeden, der mir nicht glaubte, zum Ringen heraus und ließ merken, daß ich zur Not sie alle miteinander zu zwingen gedenke. Da ging ein altes, krummes Bäuerlein in die Kredenz, brachte einen großen Steingutkrug und legte ihn der Länge nach auf den Tisch.

»Ich will dir was sagen«, lachte er. »Wenn du so stark bist, so hau den Krug mit der Faust zusammen. Dann zahlen wir dir so viel Wein, als er faßt. Wenn du es nicht kannst, zahlst aber du den Wein.«

Mein Vater stimmte sogleich zu. Also stand ich auf, wickelte mein Taschentuch um die Hand und schlug. Die zwei ersten Schläge taten keine Wirkung. Beim dritten ging der Krug in Stücke. »Zahlen!« rief mein Vater und glänzte vor Wonne, der Alte schien einverstanden. »Gut«, sagte er, »ich zahl Wein, soviel in den Krug geht. Wird aber nimmer viel sein.« Freilich faßte der Scherben keinen Schoppen mehr, und ich hatte zum Schmerz im Arm noch den Spott. Auch mein Vater lachte mich jetzt aus.

»Nun, so hast du gewonnen«, schrie ich, schenkte den Scherben aus unsrer Flasche voll und goß ihn dem Alten über den Kopf. Nun waren wir wieder die Sieger und hatten den Beifall der Gäste.

Derlei starke Scherze wurden noch mehr getrieben. Dann schleppte mein Vater mich nach Hause, und wir polterten aufgeregt und unwirsch durch die Stube, in welcher vor noch nicht drei Wochen der Sarg der Mutter gestanden hatte. Ich schlief wie ein Toter und war am Morgen ganz verwüstet und zerbrochen. Der Vater spottete, war munter und heiter und freute sich sichtlich seiner Überlegenheit. Ich aber schwor im stillen, nie mehr zu zechen, und wartete sehnlichst auf den Tag der Abreise.

Der Tag kam, und ich reiste ab, den Schwur aber habe ich nicht gehalten. Der gelbe Waadtländer, der tiefrote Veltliner, der Neuenburger Sternwein und viele andere Weine sind mir seither bekannt und gute Freunde geworden.

3

Aus der nüchternen und drückenden Luft der Heimat herausgekommen, tat ich große Flügelschläge der Wonne und Freiheit. Wenn ich sonst im Leben je und je zu kurz gekommen bin, so habe ich doch die absonderliche, schwärmerische Lust der Jugendzeit reich und rein genossen. Gleich einem jungen Krieger, der am blühenden Waldrand rastet, lebte ich in seliger Unruhe zwischen Kampf und Getändel; und wie ein ahnungsvoller Seher stand ich an dunkeln Abgründen, dem Brausen großer Ströme und Stürme lauschend und die Seele gerüstet, den Zusammenklang der Dinge und die Harmonie alles Lebens zu vernehmen. Tief und beglückt trank ich aus den vollen Bechern der Jugend, litt in der Stille süße Leiden um schöne, scheu verehrte Frauen und kostete das edelste Jugendglück einer männlich frohen, reinen Freundschaft bis zum Grunde.

In einem neuen Buckskinanzug und mit einer kleinen Kiste voll Bücher und sonstiger Habe kam ich angefahren, bereit mir ein Stück Welt zu erobern und so bald als möglich den Rauhbeinen daheim zu beweisen, daß ich aus einem anderen Holze als die übrigen Camenzinde geschnitten sei. Drei wundervolle Jahre wohnte ich in derselben weithinblickenden, windigen Mansarde, lernte, dichtete, sehnte mich und fühlte alle Schönheit der Erde mich mit warmer Nähe umgeben. Nicht jeden Tag hatte ich etwas Warmes zu essen, aber jeden Tag und jede Nacht und jede Stunde sang und lachte und weinte mir das Herz, einer starken Freude voll, und hielt das liebe Leben heiß und sehnlich an sich gedrückt.

Zürich war die erste große Stadt, die ich grüner Peter zu sehen bekam, und ein paar Wochen lang machte ich beständig große Augen. Das städtische Leben aufrichtig zu bewundern oder zu beneiden, fiel mir zwar nicht ein – darin war ich eben ein Bauer, – aber ich hatte Freude an dem Vielerlei der Straßen, Häuser und Menschen. Ich beschaute die von Wagen belebten Gassen, die Schifflände, Plätze, Gärten, Prunkbauten und Kirchen; ich sah fleißige Leute in Scharen zur Arbeit laufen, sah Studenten bummeln, Vornehme ausfahren, Gecken sich brüsten, Fremde umherschlendern. Die modisch eleganten, hoffärtigen Weiber der Reichen kamen mir wie Pfauen im Hühnerhofe vor, hübsch, stolz und ein wenig lächerlich. Schüchtern war ich eigentlich nicht, nur steif und trotzig, und ich zweifelte nicht, daß ich ganz der Kerl dazu sei, dies rege Leben der Städte gründlich kennenzulernen und später selber einmal meinen sicheren Platz darin zu finden.