Die dreißig Seeleute richteten sich wie ein einziger Mann hinter der Schiffswand auf und spannten ihre Bogen.
Die entschlossene Haltung des kühnen Jünglings und die Zahl der Äthiopier schien die kriegerische Neigung des Kommandanten zu dämpfen. Nach kurzer Beratung mit seinen Leuten ließ er die Barken umkehren.
»Herr, du hast zuviel gewagt«, sagte Ata. »Wir wissen nicht, wieviele Soldaten auf der Festung sind und über wieviele Schiffe sie verfügen!«
»Sie sollen nur kommen!«
»Du hast Mut«, sagte Unis. »Du wirst eines Tages ein mächtiger Fürst werden. Ich habe dir den Kometen gezeigt, der einen baldigen Wechsel auf Ägyptens Thron ankündigte. Vertrauen wir der Zukunft!«
»Jetzt schnell außer Schußweite!« rief Ata und gab seinen Leuten Befehl, das Segelschiff wieder in Fahrt zu setzen.
* * *
Der Nil war weiter angeschwollen und bedeckte inzwischen die Felder. Wo er eine Niederung fand, überschwemmte er das Land und befruchtete es mit seinem kostbaren Schlamm.
Die im Gebüsch lebenden Tiere flohen. Man sah Rudel leichtfüßiger Gazellen, Antilopen mit langen, dünnen Hörnern und Scharen von Raubtieren. Schwärme von weißen und schwarzen Reihern, Ibissen und Enten erhoben sich in die Lüfte.
Der Wind war dem Schiff günstig. Es flog am linken Ufer dahin, auf dessen Anhöhen hier und dort gewaltige Ruinen erschienen, vielleicht alte Tempel oder zerstörte Festungen, vielleicht auch Trümmer von Städten aus der Zeit der ersten Pharaonendynastien. Letztere hatten ihre Macht weit über das Nildelta ausgedehnt und die Ureinwohner, die Nubier, daraus vertrieben.
Auch dieser Tag verlief, ohne daß der Obelisk sichtbar wurde, der die geheimnisvolle Insel bezeichnen sollte. Auf Unis' und Atas Fragen antwortete Nefer nur: »Wartet! Habt Geduld!«
Zwei weitere Tage verstrichen. Der Nil glich jetzt einem großen See. Am vierten Tag signalisierte Ata gegen Sonnenuntergang vier große, schwarze Punkte. Es waren sicher Schiffe, die ziemlich dicht nebeneinander den Strom hinunterfuhren.
In demselben Augenblick rief auch Nefer: »Die Kantatek-Insel ist da! Seht dort den Obelisk!«
Am klaren Horizont hob sich aus dem in der Sonne schimmernden und gleißenden Wasser eine dunkle Linie ab.
»Siehst du die Insel?« fragte das Mädchen den jungen Pharao. Ihre Stimme hatte dabei einen seltsamen Klang.
Mirinri schaute sie an. »Was hast du, Nefer, du bist so erregt?« Das Mädchen wandte den Kopf, um seinen Blicken auszuweichen. »Nein, Herr, du irrst.«
Da trat Ata zu ihnen. Tiefe Besorgnis lag auf seinem Gesicht. »Herr, ich sagte dir ja, du hast eine große Unvorsichtigkeit begangen! Ich sehe dort vier große Schiffe den Fluß hinunterfahren. Man wird uns anhalten!«
»Kriegsschiffe?« fragte Unis erschrocken.
»Sicherlich.«
»Woraus schließt du das?« fragte Mirinri.
»Aus der Masthöhe und dem Takelwerk.«
»Meinst du, daß sie mit den Festungssoldaten bemannt sind?«
»Ich vermute es.«
»Aber was fürchtest du jetzt noch, wo die Kantatek-Insel in Sicht ist?« mischte sich Nefer ein. »Welcher Ägypter wird es wagen, sich dem Ort zu nahen, wo die Geister der nubischen Könige umherirren! Seht, da liegt sie vor uns und bietet uns Schutz. Es wird uns keiner zum Obelisken folgen.«
»Werden wir auch nicht noch gefährlichere Feinde dort finden?« fragten Unis und Ata wie aus einem Mund.
»Wie ich die Brandtauben beschwor, so beschwöre ich auch die Geister der Nubier!« sagte Nefer zuversichtlich. »Bin ich nicht eine Zauberin? Mit meiner Zauberformel zwinge ich sie, in ihre Gräber zurückzukehren, wo sie seit Jahrhunderten schlafen.«
»Bist du denn deiner Macht so sicher?«
»Bald werde ich sie euch beweisen! Damit aber meine Beschwörung wirksam wird, muß ich zuerst allein auf der Insel landen.«
»Das alles willst du für uns wagen?« fragte Mirinri.
»Ich tue es, um meinen künftigen König zu retten!«
»Gibt es am Ufer der Insel eine Bucht, in der wir unser Schiff verankern können?« fragte Ata.
»Ja, dicht vor dem Obelisken.«
Der Ägypter lief an das hintere Deck und ergriff das lange Ruder, das gleichzeitig als Steuer diente. Der Segler flog jetzt mit der reißenden Strömung vorwärts, und bald zeichneten sich die Umrisse der Insel scharf ab. Der Obelisk wuchs zusehends am Horizont, der vom Sonnenuntergang in feurigem Rot erstrahlte. Die Säule warf blendende Reflexe um sich, als ob sie ganz in Gold getaucht wäre.
»Birgt der Obelisk die Reichtümer der nubischen Könige?« fragte Mirinri.
»Nein«, erwiderte Nefer. »Aber ich weiß, wo sie versteckt sind.«
»Du bist schon öfters hier gewesen?«
»Nur ein einziges Mal!«
»War es nur in der Einbildung des wahnsinnigen Schiffers, oder hüten wirklich Priester die Tempelschätze?«
»Fürchte nichts, auch deren Geister kann ich beschwören.«
Schon waren sie angelangt. Das Segelschiff lief in die Bucht ein, deren Ufer mit hohen Palmen bedeckt war. An ihrem äußersten Ende ragte der vergoldete Obelisk mit seiner vierzig Meter hohen Spitze majestätisch in die Höhe.
Nefers Zauberformeln
Inzwischen hatte man den großen, als Anker dienenden Stein versenkt, und die Segel waren gestrichen worden. Mirinri, Unis und Ata hatten sich auf das Achterdeck begeben und schauten aufmerksam auf die vier großen Schiffe, um sich zu vergewissern, welche Richtung sie einschlugen.
Da sahen sie, daß sich die Fahrzeuge langsam dem gegenüberliegenden Ufer näherten und dort Anker warfen. Es schien, als ob die Mannschaft die Nacht dort zubringen wollte.
»Sie behalten uns im Auge«, bemerkte Ata unruhig. »An diese Insel wagen sie sich wohl nicht heran, aber ob sie uns fortlassen werden, ist die Frage. Freilich, uns können auch die Geister der nubischen Könige hier gefährlich werden. Selbst wenn du uns zu beruhigen suchst, Nefer – ich fürchte beinahe mehr die Toten als die Lebenden!«
»Fürchte nichts«, wiederholte Nefer. »Ich werde ihre Seelen schon beschwichtigen und in das Tempelgewölbe zurückbannen. Daß ich es kann, werde ich bald beweisen. Laß eine Brücke schlagen! Ich gehe zuerst allein in den Wald.«
»Allein in den Wald?« rief Mirinri. »Hast du denn keine Angst?«
»Wovor?«
»Es könnten wilde Tiere auf der Insel sein!« »Nicht daß ich wüßte.«
»Hast du die Krokodile vergessen?«
»Die Ufer sind dort so steil, daß sie nicht hinaufkönnen.«
»Ich werde dich begleiten! Mein scharfer Dolch soll dich beschützen!«
»Dann wäre der Zauber wirkungslos. Niemand darf dem Ritus beiwohnen, den ich unter den Bäumen abhalte.«
»Welch ein Ritus?«
»Das kann ich dir nicht sagen, Herr! Wir haben bestimmte Zeremonien, die wir keinem enthüllen dürfen. Laß mich gehen, und fürchte nichts für mich!«
Mirinri schwieg.
»Und wenn ich mich verspäte, so sei nicht besorgt«, fuhr das Mädchen fort. »Dann hat die in den Wald gerufene Zauberformel nicht genügt, und ich muß sie vor dem Tempel wiederholen.«
»Ich begleite dich wenigstens bis ans Ufer«, sagte Mirinri.
»Es sei; doch darfst du die erste Baumlinie nicht überschreiten.«
Während Unis und Ata weiter die vier Barken beobachteten, um gegen eine böse Überraschung gewappnet zu sein, schritten die beiden ein Stück Wegs zusammen, bis sie vor einer grünen, fast undurchdringlichen Pflanzenmauer stehenblieben.
»Hier geht der Weg ab«, sagte Nefer und zeigte auf eine freie Stelle zwischen Fächer- und Dumpalmen, die mit Schmarotzerpflanzen wie mit Riesengirlanden verbunden waren. Sie machte Mirinri ein Zeichen, keinen Schritt weiterzugehen.
Jetzt befand sie sich in sichtlicher Aufregung. Sie atmete schwer, und ihre Glieder zitterten.
»Was ist dir?« fragte Mirinri, der es bemerkt hatte, von neuem.