»Ja«, erwiderte sie, »und in diesen Särgen findest du auch die Schätze, von denen ich dir sprach. Es sind Türkise, Rubine, Perlen und Smaragde. Geh nur voran!«
Während Mirinri, von seinen Begleitern gefolgt, ehrfurchtsvoll die an den Wänden entlangstehenden Särge betrachtete, auf deren Deckel schwarze Köpfe mit seltsam glänzenden Augen lagen, hörte man auf einmal einen dumpfen Ton, der lange im Gewölbe widerhallte. Er schien von einer heftig zugeschlagenen Tür herzurühren.
Entsetzt wandten sich alle um und bemerkten, daß das Mädchen plötzlich verschwunden war.
»Nefer!« rief Mirinri.
Keine Antwort.
Er sah, daß die den Gang von der Zella trennende, bisher offene Bronzetür jetzt geschlossen war.
»Wir sind verraten«, sagte Ata. »Ich ahnte es! O Unis, warum hast du mich daran gehindert, die Zauberin in den Nil zu werfen?«
»Nefer geflohen? Unmöglich!« rief der Jüngling, der an des Mädchens Schuld nicht glauben wollte.
Unis seufzte. »Gefangen, in einer Grabkammer gefangen. Nun werden wir Hungers sterben.«
»Nefer!« schrie Mirinri abermals und bearbeitete die Bronzetür mit seinen Fäusten.
Auch diesmal erfolgte keine Antwort.
Da entfuhr allen ein wilder Schrei des Grausens: »Die Toten stehen auf!«
Die Fürstin der Schatteninsel
Ein entsetzliches Schauspiel bot sich den Zurückgebliebenen in dem riesigen Grabgewölbe: Die Grabdeckel kreischten und öffneten sich langsam.
Kehrten die toten Könige wieder, die Nefer in ihre Särge zurückgebannt hatte – jene Schatten, vor denen es allen Nilanwohnern grauste?
Ata und seine Leute, die sich an die Tür gelehnt hatten, starrten mit weit aufgerissenen Augen auf die Särge.
Dann klangen aus den jahrhundertealten Mumienbehältern sanfte Töne, die sich zu einer wunderbaren Harmonie vereinten, Töne wie von Flöten, Doppelflöten und Harfen. Alle Sargdeckel waren geöffnet, und eine Schar schöner, mit leichten Schleiern bekleideter Mädchen schlüpfte heraus. Sie waren mit kostbaren Ketten, Armbändern und Ringen geschmückt und von Wohlgerüchen umweht. Jede hielt ein Instrument in der Hand.
»Wer seid ihr?« rief Mirinri und sprang mit dem Ungestüm eines jungen Löwen in die Mitte des Saals. »Seid ihr Tänzerinnen oder Schatten?«
Ein silbernes Lachen aller war die Antwort. Musizierend liefen die Mädchen jetzt zum anderen Ende der Zella, wo sich Stufen befanden.
Mirinri wollte ihnen nachstürzen, doch Unis und Ata hielten ihn zurück.
»Glaube uns, es sind Schatten! Hier ist eine seltsame Zauberei im Spiel.«
»Die ich zerstören will!« Mit einer heftigen Bewegung hatte er sich aus Atas Arm befreit.
Da öffnete sich die schwere, zum Gang führende Bronzetür, und es erschien auf der Schwelle ein junges, ganz in goldgestickte Schleier gehülltes Weib mit schwarzen, über die Schultern fallenden Haaren. Vier Mädchen mit brennenden Lampen in der Hand begleiteten die wunderbare Erscheinung.
Es war die Zauberin Nefer, schöner und verführerischer denn je. Sie hatte ihre flammenden Augen auf den jungen Pharaonensohn gerichtet.
»Nefer, du ...?« schrie Mirinri auf. »Elende, du hast uns verraten! Willst du mein Leben? Gut, so nimm es!«
Tiefer Schmerz lag auf dem Gesicht des Mädchens. »Verraten?« sagte sie bitter. »Ich, die ich mein Herzblut für dich geben würde? Ich habe dich gerettet vor deinen Verfolgern, die dich als Gefangenen nach Memphis schleppen wollten!«
»Du mich gerettet? Dann bin ich also nun dein Gefangener?«
»Wenn du es verlangst, werde ich dir und deinen Gefährten die Tempelpforten öffnen. Aber was wollt ihr unternehmen, nachdem des Königs Krieger euer Schiff zerstört haben und ihr nicht einmal eine Waffe zur Verteidigung habt?«
Der Pharaonensohn schaute mit wachsendem Erstaunen die Zauberin an, die hochaufgerichtet in ihrem leichten Gewand vor ihm stand. Ata und Unis blieben stumm vor Staunen.
Nach kurzem Schweigen fragte Mirinri: »Was rätst du mir?«
»Du sollst die Gastfreundschaft annehmen, die dir die Fürstin der Schatteninsel darbietet, bis deine Feinde sich zurückgezogen haben. Komm, Herr, das Mahl ist bereitet!«
»Also war der Schatz der nubischen Könige nur ein Märchen«, spottete jetzt Unis, der die Sprache wiedergefunden hatte.
»Sei zufrieden, daß du noch am Leben bist und den Sonnensohn an deiner Seite hast, dem du dein Leben widmest!«
»So erkläre mir doch ...«
»Später! Jetzt wollen wir glücklich sein!«
Sie stieg die Stufen hinunter, gefolgt von ihren vier Begleiterinnen, nahm Mirinri, der sich nicht sträubte, von neuem bei der Hand und führte ihn in einen großen Saal, dessen marmorner Fußboden hell glänzte. Zwischen breiten Säulenreihen waren etwa dreißig niedrige Tischchen aufgestellt. Statt Sesseln lagen Tierfelle ausgebreitet, und vor jedem Tisch standen große Tonamphoren mit langem Hals. Sie enthielten Sträuße aus weißen, roten und blauen Lotosblumen, die wunderbaren Duft ausströmten.
Nefer führte den Sonnensohn zu einem der Tischchen und setzte sich neben ihn auf ein Löwenfell. Unis und Ata wie die Äthiopier machten es sich, je zu zweien, an den andern Tischchen bequem, während die Musikantinnen sich um die Säulen lagerten und leise ihre sanften Weisen ertönen ließen.
»Du bist eine Göttin, Nefer, keine Sterbliche!« rief Mirinri bewundernd aus. Er schien wie berauscht von dem süßen Duft, der ihr leichtes Gewand umwehte.
Sie lächelte und sah ihn sehnsüchtig an.
»Was hast du vollbracht?« fuhr er fort. »Ich verstehe dein immer wechselndes Wesen nicht. Erst bist du eine ärmliche Zauberin, dann eine Pharaonin, und jetzt?«
»Die Fürstin der Schatteninsel.«
»Und morgen vielleicht Königin von Ägypten?«
»Das wäre mein Wunsch, um mit dir, Herr, die Macht zu teilen! Leider wird dieser Traum nie in Erfüllung gehen«, sagte sie traurig.
In diesem Augenblick stürmte eine Schar nubischer Tänzerinnen in den Saal, mit Blumenkränzen im Haar und mit goldenen Amphoren und Bechern in den Händen. Eines dieser reizenden Mädchen näherte sich dem Tischchen, wo Nefer mit Mirinri saß, und bekränzte sie beide. Kopf und Hals wurden geschmückt, wie es bei Gastmählern Brauch war. Dann goß das Mädchen aus einem der Krüge rubinroten, honigsüßen Wein in zwei goldene Becher und reichte sie ihnen.
»Trinke zugleich auch das Licht meiner Augen!« rief Nefer feurig. »Ich trinke die Kraft, die von dir, Sonnensohn, ausgeht!« Nach kurzem Zögern leerte der Jüngling seinen Becher.
Auch Unis und Ata erhielten Kränze und Wein, der den Äthiopiern ebenfalls gespendet wurde.
Alle tranken. Die Musik ging jetzt zu lebhaften Weisen über. Die Tänzerinnen stellten sich in Positur. Ihre Tänze unter Harfen-, Flöten und Tamburinbegleitung bestanden bald in Drehungen und schwindelerregenden Windungen des Körpers, bald in zügellosem Umkreisen der Säulen. Zuweilen schien es, als ob sie sich wild auf die Gäste stürzen wollten, dann hielten sie mit erhobenen Händen jäh inne und gingen mit langsamen Bewegungen zurück.
»Was sind das für Mädchen?« fragte Mirinri.
»Sie kommen vom oberen Lauf des Nils.«
»Wohl von der Insel, die nur von Frauen bewohnt wird? Unis erzählte mir davon. Bist du vielleicht ihre Königin?«
Nefer überhörte die Frage. »Trink, Herr, das Leben ist kurz, und der Tod kann uns jeden Augenblick überraschen! Genuß ist das einzig Wahre, Rausch ist das wahre Leben!«
»Nefer, mir graut vor dir, wenn du so sprichst! Sage mir, wer du bist – ich habe dich schon oft danach gefragt.«
»Weiß ich es denn? Über meinem Dasein schwebt ein Geheimnis, das ich selbst nicht zu enträtseln vermag. Ich bin eine Pharaonin und zugleich eine Zauberin. Ich habe göttliches Blut in mir wie du, was die Tätowierung an meiner Schulter bezeugt, und doch bin ich ein armes Mädchen, eine Musikantin und Tänzerin, die das Sistrum schlagen und wahrsagen muß. Heute bin ich die Fürstin der Schatteninsel – was werde ich morgen sein?«