In diesem Augenblick zogen leuchtende Punkte, die auf dem Wasser hin- und herglitten, die Aufmerksamkeit der Bootsinsassen an.
»Da kommen die Königsschiffe!« rief Nefer. »Der Pharao wird das Hochwasser besichtigen wollen.«
Unis, der neben Mirinri stand, hob drohend seine Fäuste gegen die goldglitzernden Boote mit den flammendrot geblähten Segeln. Mirinri aber erschrak vor dem Ausdruck des Hasses, der auf dem Gesicht seines Erziehers lag. Noch nie hatte er ihn so gesehen.
Jetzt war die Königsflottille nahe. Sie bestand aus sechs vergoldeten Schiffen. An Bord sah man kleine, auf dünnen Pfeilern ruhende Zeltdächer; auch langgestielte Fächer aus bunten Federn, die durch ein goldenes Schild zusammengehalten wurden, schwankten hin und her. Das erste Schiff wurde von vielen reichgekleideten Sklaven mit Rudern bedient. In seiner Mitte saß, unter einem Schirm mit Goldfransen, von Kissen umgeben, ein Greis. Er trug eine hohe, kegelförmige Kopfbedeckung mit breiten, bis auf die Brust herabhängenden Bändern. An dem Uräus vor der Stirn erkannte man den König.
Ein harter, grausamer Zug lag auf dem Gesicht des Mannes, der mit unsicherem Blick um sich schaute, als ob er sich vor einer Verfolgung fürchtete.
Mirinri hatte die Augen fest auf den Alten gerichtet, der das Symbol der höchsten Macht trug. Auch Unis verschlang ihn mit den Blicken. In diesem Augenblick glitt das Königsboot nahe an ihnen vorüber.
Der Jüngling war im Begriff, einen Wurfspieß auf den Herrscher zu schleudern. Er entriß ihn dem Köcher an der Schiffswand, gegen die er sich lehnte. Ata aber schlug ihm blitzschnell die Waffe aus der Hand und warf sie in den Nil.
»Was tust du! Der Tod wäre uns allen gewiß!« flüsterte er vorwurfsvoll.
Unis hingegen hatte sich nicht gerührt. Er hatte wohl die Bewegung seines Zöglings gesehen, war aber stumm geblieben.
Außer den beiden hatte niemand auf dem Segelboot, auf dem sie sich befanden, die Szene bemerkt. Die Besatzung war mit der Betrachtung des königlichen Glanzes beschäftigt. Auch auf dem prunkvollen Pharaonenschiff schien keiner das bescheidene Boot eines Blickes gewürdigt zu haben.
Noch immer konnte Mirinri das Auge nicht von dem goldenen Schiff wenden, bis es hinter einem kleinen Inselchen verschwunden war. »Ich habe mir die Züge des Usurpators eingeprägt«, sagte er ernst, sich zu Unis umwendend. »Sobald ich ihn wiedersehe, soll mein Schwert ihn durchbohren.«
Nefer, die sich hinter den Nubiern versteckt hatte, während die königliche Flottille vorüberrauschte, rief jetzt aus voller Kehle: »Seht, Memphis , die Hauptstadt! Wir sind da!«
Die stolze Stadt lag vor ihnen. Deutlich zeichneten sich am Horizont die Umrisse der herrlichen Tempel, Paläste und Obelisken ab.
Das Fremdenviertel
Die Strömung des Nils wurde stärker unterhalb der Stadt, da der Fluß dort das Wasser aus den unzähligen Deltamündungen aufnahm. Das Schiff hatte sich jetzt dem linken Ufer genähert, auf dem sich die Reihe der Paläste meilenweit ausdehnte.
Schweigend schaute der Sonnensohn auf die Stadt, in deren Mauern er das Licht der Welt erblickt hatte. Man sah es ihm an, daß er hingerissen war von ihrer Größe und Pracht. Mit vollen Lungen atmete er die Luft ein, die eine frische Brise ihm zutrug. Jetzt befand sich das Boot vor den gewaltigen Deichen, die aus Steinblöcken errichtet worden waren, um eine unübersteigbare Wehr gegen die Hochwasser zu bilden. Schiffe in allen Größen, mit den verschiedensten Waren lagen hier. Am Kai waren Sklaven über Sklaven mit dem Löschen der Ladungen beschäftigt, obwohl die Nacht schon zu sinken begann.
Ata bat den Bootsführer, erst bei dem letzten die Vorstädte gen Süden schützenden Deich zu landen. Er wagte nicht, seine Freunde im Zentrum der Stadt aussetzen zu lassen, da er die Polizei fürchtete. Irgendein Spion konnte trotz aller Vorsichtsmaßnahmen ihre Ankunft verraten haben, und das hätte sofort ihre Verhaftung zur Folge gehabt. In den Vorstädten dagegen konnte man sich mit Hilfe der dreißig Äthiopier schlimmstenfalls verteidigen und durch die Deltakanäle entfliehen.
»Während ich Tetis Parteigänger benachrichtige«, sagte Ata, »werdet ihr euch eine Wohnung im Fremdenviertel suchen, wo ihr euch unbeobachtet bewegen könnt. Es wird dort leicht sein, ein Häuschen zu finden. Ihr könnt euch ja als assyrische oder griechische Schiffer ausgeben.«
»Ich will mein früheres Gewerbe als Zauberin wieder aufnehmen!« rief Nefer in glücklicher Stimmung, da ihr die schwere Aufgabe gelungen war, den Sonnensohn wohlbehalten nach Memphis zu führen.
»Und Mirinri kann als dein Bruder gelten«, meinte Unis. »So wird jeder Verdacht über sein wahres Wesen abgelenkt werden.«
»Gewiß; er kann das von mir erworbene Geld einnehmen.«
»Wenn ich mir damit den Thron verdiene, bin ich gern dazu bereit!«
Nefer ging zum Bootsführer und zeigte ihm wiederum die Uräusschlange. »Ich werde dir eine Gnade erweisen!« sagte sie. »Das Schiff soll dein sein. Ich schenke es dir, aber nur unter der Bedingung, daß du sofort aufs Meer hinausfährst. Dort kannst du Handel treiben mit den Phöniziern oder Griechen. Aber hütet euch alle, zu erzählen, was ihr hier gesehen habt! Des Königs Strafe würde euch erreichen!«
»Ich gehorche und danke dir«, sagte der Alte, mit verschmitztem Lächeln sich tief vor ihr verneigend.
Da das Ufer mit zunehmender Dunkelheit leer geworden war, konnte die Landung unbeobachtet vonstatten gehen. Und eiligst verschwand das Boot, das den Sonnensohn hergetragen hatte, in einem der zahlreichen ins Meer hinausführenden Deltakanäle.
Warum hast du das Schiff fortgeschickt, Nefer?« fragte Mirinri. »Konnte es uns nicht noch gute Dienste leisten?«
»Weil ich vermute; daß irgendeiner der Bootsleute bemerkt haben könnte, daß du dem König mit dem Wurfspieß nach dem Leben trachtetest. Verräter gibt es überall!«
»Kann nicht auch die Zahl unserer Äthiopier Verdacht erregen?«
Unis' Frage wurde von Ata, der von allen der Vorsichtigste und Bedächtigste war, beantwortet: »Ich habe meinen Leuten schon Befehl gegeben, sich zu verteilen. Sie sollen mich bei der Rhodopis-Pyramide erwarten; dort wollten sich deine Anhänger versammeln.
Da fällt mir ein, daß ein Freund von mir, ein Syrier, dem ich mehrmals Hilfe geleistet habe, hier in der Nähe ein Häuschen besitzt. Er wird es mir gern überlassen. Folgt mir, aber schweigend! Jedes Wort könnte uns verraten.«
Während die braune Besatzung des bei der Schatteninsel untergegangenen Schiffes in alle Richtungen auseinanderging, bog Ata in eine Gasse ein. Sie wurde von kleinen Häusern begrenzt, deren Mauern etwas schräg standen und keine Fenster hatten. Von hier bog er erneut ab, und nachdem die Freunde so eine Strecke gewandert waren, blieb Ata vor einem bescheidenen, strohgedeckten Häuschen stehen.
Da er die Tür offen fand, trat er ein, während die andern draußen seine Rückkehr erwarteten. Diese erfolgte nach wenigen Minuten. Mit ihm erschien ein einfacher Mann, der – nach stummem Gruß mit der Hand – sich im Finstern der Straße verlor.
»Betrachtet das Haus als das eure«, sagte Ata. »Sein Eigentümer wird euch nicht belästigen. Vor allen Dingen aber Vorsicht! Folgt Nefer in allen Stücken!«
»Wann werden wir dich wiedersehen?« fragte Unis voller Besorgnis.
»Sobald ich alles für den Staatsstreich vorbereitet habe. Der Schatz, den wir vorausschickten, wird schon angelangt sein. Wir werden ein ganzes Heer damit besolden. Es muß gelingen!«
Nachdem er Abschied genommen hatte, verschwand auch er in der dunklen Gasse.
»Ganz so bescheiden hatte ich meinen Palast nicht erwartet!« scherzte Mirinri, indem er eine kleine Terrakottalampe vom Türpfosten nahm und umherleuchtete.
»Habe Geduld, mein Sohn.«
»Ich beklage mich ja nicht. Die Höhle, die ich in der Wüste bewohnte, war noch geringer, aber ich war sorglos und fröhlich darin!«