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Umbra öffnete ein Schattentor. Bevor sie hindurchtrat, sah sie noch, dass die Herrin wieder den verwüsteten Kessel betrachtete – und einen Moment lang zeigte sich in dem makellosen Gesicht eine ganz und gar untypische Regung.

Schuldgefühle?

23

Fluchtpläne

»Sieht so aus, als hätte die halbe Grambeuge die gleiche Idee gehabt wie wir«, sagte Liam. Menschenmassen drängten sich zwischen den Lagerhäusern. Ganze Familien kauerten auf der Straße, umgeben von den wenigen Habseligkeiten, die sie in der Eile hatten zusammenraffen können. Es waren Flüchtlinge aus dem Rattennest und anderen Vierteln, die an den Kessel grenzten. In Scharen flohen sie vor dem Grauen, das aus dem bodenlosen Abgrund im Stadtzentrum kroch, und strömten nach Süden. Einige waren auf Dächer und Lastkräne geklettert und beobachteten den Abendhimmel und die Straßen zur Grambeuge, um die Menge warnen zu können, falls sich Dämonen näherten. Das Hafenviertel schien jedoch sicher zu sein. Zumindest waren so weit südlich des Chymischen Weges bis jetzt keine Ungeheuer gesehen worden.

Wahrscheinlich, weil sie in den Ruinen des Kessels fürs Erste genug Beute finden, dachte Liam düster.

»Bis zu den Kais ist es nicht mehr weit«, sagte Quindal. »Kommt weiter.«

Die Gefährten bahnten sich ihren Weg durch das Chaos. Beim Anblick der vielen Flüchtlinge musste Liam an all die Menschen denken, die nicht so viel Glück gehabt hatten wie seine Freunde und er – die gerade in einer Manufaktur oder Gießerei gearbeitet hatten, als die Erde bebte. Vermutlich waren Tausende in die Spalte gestürzt oder von zusammenbrechenden Mauern zermalmt worden oder lagen eingeklemmt und hilflos unter Trümmern. Und das war noch ein gnädiges Los, verglichen mit dem Schicksal, das jenen bevorstand, die in die Klauen der Dämonen fielen.

Erinnerungen stiegen in Liam auf. Titanische Ruinen. Eine pulsierende Burg. Kreischende Horden. Bilder, die er für immer vergessen wollte.

Er schloss die Augen. Nein. Ihr sollt mich in Ruhe lassen. Geht weg.

Jemand ergriff seine Hand. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Vivana besorgt.

»Ja«, murmelte er, und die Bilder verblassten. »Es geht schon wieder. Sehen wir zu, dass wir ein Boot auftreiben.«

Es wurde allmählich dunkel, als sie zu den Kais kamen. Kutschen standen kreuz und quer, Leute stritten mit den Matrosen und wedelten mit Geldscheinen. Es handelte sich um wohlhabende Bürger, die die Schiffskapitäne überreden wollten, sie aus der Stadt zu bringen. Die Seeleute witterten das große Geschäft und ließen nur die Meistbietenden an Bord.

»Es ist besser, wenn ich mich erst einmal allein umsehe«, sagte Lucien, der sein Gesicht in der Umhangkapuze verbarg. »Wartet hier.« Der Alb verschwand im Gewühl.

Die Freunde setzten sich auf eine Mauer und ruhten sich von dem anstrengenden Marsch aus.

»Wo steckt eigentlich Ruac?«, fragte Liam Vivana.

»Er sitzt da drüben, auf der stillgelegten Werft.«

Liam konnte ihn nicht sehen – der Lindwurm war seit ihrem Aufbruch vom Wasserturm unauffällig. Liam betrachtete das unwürdige Spektakel, das sich an den Anlegestegen abspielte, und hoffte inständig, dass Ruac nicht auf die Idee kam, sich sichtbar zu machen. Die aufgekratzte Menge würde das geflügelte Geschöpf mit Sicherheit für einen Dämon halten. Und eine Panik war das Letzte, was sie jetzt brauchten.

»Ich glaube, ich habe das vorhin nicht ganz kapiert«, sagte Nedjo nach einer Weile. »Ihr wollt also nach Yaro D'ar gehen, einen dreitausend Jahre alten Sterndeuter finden und ihn bitten, den Phönix zu befreien?«

»Die Bleichen Männer haben gesagt, Mahoor Shembar wäre der Einzige, der den Zauber brechen kann«, erwiderte Vivana.

»Für mich klingt das eher wie ein schlechter Witz. Wenn du mich fragst, haben sie euch reingelegt.«

»Haben sie nicht«, sagte Liam. »Glaub mir. Ich war dabei.«

»Und was macht dich da so sicher?«

»Wesen wie sie haben es nicht nötig zu lügen.« Liam konnte immer noch die geisterhaften Stimmen hören. Stimmen, die bis auf den Grund der Seele drangen.

Der Manusch rieb sich müde die Stirn. Die Zuversicht, die er immerzu ausstrahlte, war restlos verschwunden. »Also gut. Nehmen wir an, es gibt diesen Sterndeuter wirklich. Was hat das jetzt noch für einen Sinn? Was wir verhindern wollten, ist eingetreten. Die Dämonen sind da. Es spielt keine Rolle mehr, ob der Phönix zurückkehrt oder nicht.«

»Doch, tut es«, widersprach Vivana. »Bradost braucht seinen Wächter mehr denn je.«

»Aber kann der Phönix etwas gegen die Dämonen ausrichten? Kann er die Risse in den Lichtmauern schließen?«

»Er ist eines der mächtigsten Schattenwesen überhaupt. Wenn jemand es kann, dann er.«

»Du bist dir also nicht sicher.«

»Trotzdem müssen wir es versuchen. Es ist unsere einzige Chance.«

Nedjo verzog den Mund und schwieg.

»Wo liegt dieses Yaro-Dings, von dem ihr die ganze Zeit redet?«, fragte Jackon.

Liam starrte den Rothaarigen ungläubig an, bis ihm wieder einfiel, dass Jackon noch vor einem halben Jahr ein Schlammtaucher gewesen war. Er hatte nie eine Schule besucht und wusste kaum etwas über die Welt jenseits der Stadtgrenzen. »Yaro D'ar«, sagte er. »Es ist ein Land im Süden, auf der anderen Seite des Meeres.«

»Wie wollen wir dorthin kommen? Mit dem Schiff?«

»Vorod Khoroj besitzt ein Luftschiff«, antwortete Quindal. »Ich werde ihn bitten, uns hinzubringen.«

Darüber hatte Liam auch schon nachgedacht. »Das ist ziemlich viel verlangt, oder?«

»Vorod ist kein Dummkopf. Er wird verstehen, dass es wichtig ist. Und so viel verlangt ist es auch wieder nicht. Yaro D'ar ist schließlich seine Heimat. Früher war er ständig dort.«

Liam wollte gerade seine Wasserflasche aus dem Rucksack holen, als ihm auffiel, dass Godfrey angestrengt die Straße hinaufspähte. »Ist uns jemand gefolgt?«, fragte er alarmiert.

Der Aethermann schien ihn erst gar nicht zu hören. Dann lehnte er sich zurück. »Nein, alles in Ordnung«, sagte er kurz angebunden.

Eine halbe Stunde später kehrte Lucien zurück. »Ich habe ein Boot gefunden. Kommt.«

Sie folgten dem Alb den Kai entlang. Vivana rief nach Ruac, als sie an der Werft vorbeigingen. Für einen kurzen Moment spürte Liam einen Lufthauch im Gesicht. Offenbar zog Ruac es vor zu fliegen, obwohl ihm erst vor ein paar Tagen die Flügel gewachsen waren. Er lernte unglaublich schnell.

Sie erreichten den Teil des Hafens, wo kleinere Boote, hauptsächlich Fischerkähne, ankerten. Liam sah auf den ersten Blick, dass es sehr schwer werden würde, eines zu stehlen. Auch hier waren die Anlegestege voller Menschen.

Lucien schien jedoch andere Pläne zu haben. Im Schutz der Dunkelheit führte er sie zu einem heruntergekommenen Bootshaus, das etwas zurückgesetzt von der Kaimauer stand. Die Tür knarrte, als er sie öffnete. Drinnen war es finster und roch nach Algen, Brackwasser und verfaultem Fisch.

Es enthielt ein einziges und recht altersschwaches Ruderboot.

»Ein bisschen klein für sieben Leute, oder?«, meinte Quindal.

»Es muss reichen«, sagte Lucien. »Los, tragen wir es zum Wasser.«

Liam öffnete das Tor, von dem aus eine Rampe zum Hafenbecken führte. Anschließend half er Lucien, Quindal, Godfrey und Nedjo, das Boot hinauszutragen. Vivana und Jackon folgten ihnen mit den Rudern.

Niemand nahm Notiz von ihnen, als sie die Nussschale ins Wasser schoben und einstiegen. Es stellte sich heraus, dass sieben Leute hineinpassten – gerade so. Quindal und Nedjo ruderten, während sich die anderen dünn machten und versuchten, nicht im Weg zu sein. Obwohl es windstill war, wühlten Wellen das schwarze Wasser auf. Dass keine zwei Meilen flussaufwärts gewaltige Wassermassen in die Erdspalte stürzten, sorgte im Hafenbecken für tückische Strömungen, die Quindal und Nedjo alles abverlangten. Mehr als einmal schaukelte das Boot bedrohlich. Reines Glück bewahrte die Gefährten vor dem Kentern.