»Hör auf mit dem Unsinn«, sagte Vivana. »Du musst deine Kräfte einteilen. Das wird ein langer Flug.«
Doch selbst wenn Ruac sie hätte hören können, hätte er vermutlich einfach so weitergemacht. Er genoss die Reise viel zu sehr. Zum ersten Mal konnte er richtig fliegen, er ganz allein in der Weite des Himmels, ohne die bedrückende Enge der Stadt.
Sie seufzte und ging zu den anderen zurück.
Bei ihren Gefährten im Steuerraum machte sich Niedergeschlagenheit breit. Niemand konnte fassen, was Godfrey getan hatte.
»Er hat für mich gearbeitet. Er war mein Freund«, sagte ihr Vater gerade. »Nicht im Traum hätte ich gedacht, dass er zu so etwas fähig ist. Er weiß doch, dass Lady Sarka ein Monster ist.«
Vivana setzte sich zu Liam. Er legte den Arm um sie, und sie schmiegte sich an ihn.
»Vielleicht wollte er uns damit die Zerstörung seines Verstecks heimzahlen«, mutmaßte Nedjo.
»Das hat ihn schwer getroffen«, sagte Lucien. »Aber ich glaube nicht, dass das die Ursache für seinen Verrat war. Zumindest nicht die einzige. Vermutlich hat Lady Sarka ihn irgendwie gekauft.«
»Womit?«, fragte Vivanas Vater. »Geld? Das hat Godfrey nie interessiert.«
»Ich schätze, wenn wir seine Akte aus dem Archiv der Geheimpolizei hätten, wüssten wir mehr.«
»Godfreys Akte?«, wiederholte Vivana. »Wieso?«
»Ich werde das Gefühl nicht los, dass damit alles angefangen hat«, erwiderte der Alb.
Die Diskussion ging noch eine Weile weiter, ohne dass die Gefährten eine befriedigende Erklärung für Godfreys Verhalten fanden. Schließlich zogen sich Vivanas Vater, Nedjo und Jackon in die Passagierkabinen zurück, und Lucien ging nach hinten in den Aufenthaltsraum, um eine Pfeife zu rauchen.
Vivana und Liam blieben im Steuerraum zurück. Von draußen drang leise das Summen der Propeller herein. Am Bugfenster saß Vorod Khoroj, ein schwarzer Umriss im Widerschein der roten Kontrolllampen, und steuerte das Luftschiff sicher durch die Nacht.
»Ich mache mir Sorgen um Madalin und die anderen«, sagte Vivana. »Godfrey hat Corvas bestimmt gesagt, wohin sie gegangen sind.«
»Und wenn schon«, erwiderte Liam. »Wahrscheinlich sind sie längst über alle Berge. Außerdem ist dein Onkel gerissen. Wenn er merkt, dass Corvas' Leute hinter ihm her sind, wird er sie einfach abschütteln.«
»Ja, wahrscheinlich«, murmelte sie, obwohl sie spürte, dass er das nur sagte, um sie zu beruhigen. In Wahrheit sorgte er sich ebenso sehr um die Manusch wie sie.
Plötzlich überkam sie bleierne Müdigkeit. Die Augen fielen ihr zu, doch sie schlief nicht richtig ein. Sie spürte die Wärme von Liams Körper und hörte in weiter Ferne das Summen der Motoren, während die Bilder dieses endlosen Tages an ihr vorüberzogen. Erinnerungen, glasklar und gestochen scharf und gleichzeitig so rauschhaft und unwirklich wie ein Traum.
Irgendwann hörte sie jemanden hereinkommen.
»Hinter uns ist ein Luftschiff aufgetaucht«, sagte Lucien. »Ich glaube, es verfolgt uns.«
Vivana war von einer Sekunde auf die andere hellwach. Liam, der ebenfalls eingenickt war, schlug die Augen auf.
»Ein Luftschiff aus Lady Sarkas Flotte?«, fragte Khoroj alarmiert.
»Möglich.«
Khoroj übergab das Steuer einem seiner Leibwächter, holte ein Fernrohr aus einer Schublade und ging mit den Gefährten nach hinten, wo sie durch das Heckfenster blickten.
Das fremde Luftschiff war noch so weit entfernt, dass Vivana es kaum erkennen konnte. Auch Ruac hatte es bemerkt und sich angesichts der potenziellen Gefahr unauffällig gemacht.
»Sie haben die Scheinwerfer und alle Lichter im Innern gelöscht«, sagte Khoroj mit gerunzelter Stirn. »Offenbar wollen sie nicht gesehen werden.« Er ging ganz nah an die Scheibe heran und beobachtete das Luftschiff mit seinem Fernrohr. »Es ist sehr groß. Drachenklasse. Wenn sie es wirklich auf uns abgesehen haben, sind wir in Schwierigkeiten.«
»Sie haben doch gesagt, die Jaipin sei das schnellste Luftschiff von Bradost«, sagte Vivana.
»Ja, aber die Jaipin ist nicht bewaffnet. Im Gegensatz zu diesem Monstrum.«
Vivanas Vater, Jackon und Nedjo kamen herein. »Was ist denn los?«, erkundigte sich der junge Manusch verschlafen.
Khoroj machte sie auf das andere Luftschiff aufmerksam, das inzwischen merklich näher gekommen war. Offenbar fuhr es mit Höchstgeschwindigkeit.
»Natürlich«, knurrte Vivanas Vater. »Das wäre ja auch viel zu einfach gewesen.«
»Darf ich mal?«, fragte Jackon, ließ sich von Khoroj das Fernrohr geben und blickte hindurch. »Ich kenne dieses Luftschiff. Es ist die Phönix. Lady Sarkas Flaggschiff.«
»Bist du sicher?«, fragte Liam.
»Absolut. Lady Sarka hat mich vor ein paar Wochen auf einen Rundflug mitgenommen. Ich würde es unter tausend Luftschiffen wiedererkennen.«
Nervös biss sich Vivana auf die Unterlippe. Sie konnte sich noch gut an die Berichte in den Zeitungen über den legendären Jungfernflug der Phönix erinnern. Sie war der Stolz von Bradosts Luftflotte, hervorragend gepanzert und bewaffnet – eine fliegende Festung. Koner Maer, der Kommandant, galt als der beste Aeronaut der Welt, und seine Mannschaft bestand aus abgebrühten Haudegen mit der Erfahrung von hundert Schlachten. Gegen die Phönix hatten sie nicht den Hauch einer Chance.
»Vielleicht ist das ja nur ein dummer Zufall«, sagte Nedjo. »Vielleicht wollen sie gar nichts von...«
In diesem Moment zuckte ein Blitz heran. Er schoss horizontal durch die Luft und verfehlte sie nur um wenige Fuß. Die Gefährten schrien gleichzeitig auf.
»Das war ein Warnschuss!«, stieß Vorod Khoroj hervor. »Sie wollen uns zum Umkehren zwingen. Aber so leicht machen wir es ihnen nicht. Festhalten! Jetzt wird es ungemütlich.«
Während der Südländer zum Steuerraum hastete, setzten sich Vivana und ihre Gefährten in die Sessel und umklammerten die Armlehnen. Die Phönix feuerte weitere Warnschüsse ab, nicht nur mit Blitzwerfern, auch mit normalen Pulvergeschützen. Kanonenkugeln und Schrotladungen sausten pfeifend an ihnen vorbei.
»Ruac!«, schrie Vivana, als sie feststellte, dass der Lindwurm verschwunden war. War er getroffen worden?
Die Propeller dröhnten lauter, während die Jaipin beschleunigte. Vivana wurde beinahe aus ihrem Sitz geschleudert – doch das war nichts, verglichen mit dem, was danach geschah. Das Luftschiff sackte so jäh ab, dass ihr der Mageninhalt hochkam. Sie biss die Zähne zusammen und krallte ihre Finger ins Polster. Jackon hatte nicht so viel Glück. Er flog quer durch den Raum, rollte über den Teppich und prallte ächzend gegen die Wand, bevor er sich an einem Pfosten festhalten konnte.
Blitze zuckten durch die Nacht, erfüllten die Gondel mit geisterhaftem Flackern und kamen ihnen gefährlich nah. Das waren keine Warnschüsse mehr, begriff Vivana. Die Phönix wollte sie abschießen und feuerte aus allen Rohren.
Sie erhaschte einen Blick nach draußen und versuchte, Ruac zu entdecken, doch bevor sie etwas sehen konnte, kippte der Sternenhimmel plötzlich nach oben weg. Die Jaipin legte sich auf die Seite, als Khoroj dem Geschützfeuer auswich. Nach ein paar Sekunden schwenkte er zurück nach links, diesmal so ruckartig, dass Vivana das Knarren von strapaziertem Metall zu hören glaubte.
Weitere Ausweichmanöver folgten, eines waghalsiger als das vorherige. Irgendwann spürte Vivana einen dumpfen Schmerz im Ellbogen und stellte fest, dass sie auf dem Boden lag, obwohl sie sich nicht erinnern konnte, gefallen zu sein. Auch ihre Freunde saßen nicht mehr in ihren Sesseln.
Kreuz und quer lagen sie auf dem Teppich und klammerten sich irgendwo fest, während draußen die Geschosse vorbeiheulten.
Vivana rollte sich herum und schaute aus dem Heckfenster. Die Phönix war ein gutes Stück näher gekommen, wodurch Vivana sie genauer erkennen konnte. Es war ein Ungetüm von einem Luftschiff, gegen das die Jaipin geradezu winzig wirkte. An mehreren Stellen flammte Mündungsfeuer auf, am Bug der gepanzerten Gondel, vorne an der Spitze und ganz oben auf der Hülle, wo sich eine Plattform mit Geschützen befand. Eine monströse Maschine, die einzig und allein dem Zweck diente, den Feinden Lady Sarkas Tod und Vernichtung zu bringen.