Jeder Muskel im Leib tat ihm weh, aber das war es ihm wert. Mit seinem Geschick und Durchhaltevermögen beim Fechttraining hatte er Nedjos Respekt erworben. Anschließend hatten der Manusch, Liam und er noch zwei Stunden zusammengesessen und sich wie alte Krieger über die Feinheiten der Kampfkunst ausgetauscht. Zum ersten Mal hatte Jackon das Gefühl gehabt, nicht bloß geduldet, sondern geschätzt zu sein. Das Lächeln auf seinen Lippen wollte gar nicht mehr verschwinden.
Mit dem Summen der Motoren im Ohr schlief er schließlich ein. In seinem Traum eilte er durch die dunklen Flure von Lady Sarkas Palast. Er war auf der Suche nach Umbra, um sie vor einer schrecklichen Gefahr zu warnen, konnte sie jedoch nirgendwo entdecken. Seine Kräfte waren noch nicht zurückgekehrt. Zwar gelang es ihm, seine Gedanken zu fokussieren und die Tür seines Seelenhauses aufzuspüren, aber er war zu schwach, um sie aufzustoßen. Verzweifelt rüttelte er am Türknopf, verfluchte Silas Torne und das tückische Kristallmesser und gab schließlich auf.
»Hallo Jackon.«
Erschrocken fuhr er herum. Aus den Schatten trat Lady Sarka.
»Da staunst du, was?«, fragte sie lächelnd. Die Flammen des Phönix züngelten über ihr Gewand, und in ihren Augen glühte eisiges Feuer.
Er wich zurück, bis er mit dem Rücken gegen ein Hindernis stieß. »Verschwinde, du dumme Traumgestalt!«, sagte er unwirsch. »Ich habe keine Angst vor dir.«
»Ich bin keine Traumgestalt, Jackon. Ich bin leibhaftig hier. In deinem Seelenhaus.«
»Das kann nicht sein. Ohne meine Hilfe habt Ihr es noch nie geschafft, fremde Seelenhäuser zu finden.«
»Das war früher. Aber jetzt trage ich deine und Luciens Essenz in mir. Und sie macht mich stark.«
»Essenz?«, echote Jackon.
»Ich habe eure Kräfte aus Silas Tornes Messer extrahiert und zu mir genommen. Das hat mir die Fähigkeiten eines Traumwanderers verliehen – und die eines Alben! Ist das nicht wunderbar? Endlich kann ich meine neue Macht beherrschen, auch ohne deine Hilfe. Und nicht nur das – die Albenessenz hat Kräfte geweckt, von denen ich gar nicht wusste, dass sie in mir schlummern. Stell dir vor, ich muss nicht mehr schlafen, um zu den Traumlanden zu gelangen. Ich kann sie jederzeit betreten, genau wie ein Alb. Ich bin mächtiger, als du je sein wirst, Jackon. Sogar mächtiger als Aziel.«
»Nein«, flüsterte Jackon. »Das ist nicht wahr. Ihr lügt.«
»Sei nicht albern«, rügte sie ihn sanft. »Dass ich hier vor dir stehe, ist doch Beweis genug. Oder möchtest du, dass ich dir meine Macht demonstriere?«
Plötzlich war ihre Präsenz so intensiv, so erdrückend, dass er kaum noch atmen konnte.
»Siehst du? Du spürst meine Macht. Du weißt, dass ich die Wahrheit spreche.«
Alles in Jackon schrie nach Flucht, aber ein winziger Teil von ihm konnte einfach nicht aufhören zu hoffen, dass noch ein Rest von Vernunft in ihr war. Sie war doch so klug. Vielleicht konnte er sie davon überzeugen, wenigstens einmal das Richtige zu tun. »Dann nutzt Eure Kraft«, sagte er. »Nutzt sie, um die Traumlanden zu heilen. Wenn Ihr die Ordnung in der Stadt der Seelen wiederherstellt, schließen sich vielleicht auch die Risse in den Mauern des Pandæmoniums.«
»Fängst du schon wieder mit diesem Unsinn an?«, unterbrach sie ihn scharf »Was in den Träumen geschieht, hat nichts mit dem Pandæmonium zu tun. Nichts, hast du verstanden? Wer das behauptet, lügt.«
»Bitte, Ihr müsst mir glauben. Nur Ihr habt die Macht, das Böse aufzuhalten.«
»Genug jetzt«, befahl Lady Sarka. »Ich bin nicht hier, um mit dir zu plaudern. Du hast mich betrogen und verraten, Jackon. Dafür wirst du jetzt büßen.«
Er lief davon.
So schnell er konnte, hastete er durch Flure und Säle des schattenhaften Palastes, stieß Türen auf und eilte Treppen hinab. Er musste sich irgendwo verstecken. Ihre Macht war gewaltig. Es gab nichts, was er dagegen ausrichten konnte.
Er blieb abrupt stehen, als sie vor ihm aus dem Nichts erschien.
»Ich bin die Herrin der Träume. Dies ist mein Reich. Du kannst mir nicht entkommen.«
Er wirbelte herum und rannte den Gang zurück, aus dem er gekommen war. Er kam keine zehn Schritte weit, bevor sie ihm abermals den Weg abschnitt.
»Es ist zwecklos, Jackon. Ich bin dein schlimmster Albtraum.«
Seine Gedanken rasten. Es gab nur eines, was er tun konnte: Er musste aufwachen. In der Wachwelt war er sicher vor ihr.
»Nein!«, fauchte sie, als das Seelenabbild seines Körpers zu verblassen begann. Ihre Hand schnellte vor und packte ihn mit übermenschlicher Kraft am Hals. »Du bleibst hier. Ich entscheide, wann du gehen darfst.«
Sie schleuderte ihn gegen die Wand. Die Schatten verdichteten sich, schlossen ihn ein. Und plötzlich öffneten sich überall Münder. Riesige Mäuler voller Zähne.
26
Über dem Meer
Jackon erwachte zitternd und schweißgebadet. Er fuhr zusammen, als zwischen den Kisten etwas klapperte, und kroch rückwärts in eine Ecke des Frachtraums, wo er sich zusammenkauerte und die Decke bis zum Kinn zog.
Wieder das Klappern. Mit angehaltenem Atem starrte er den Kistenstapel an. Etwas rollte über den Boden.
Nur eine leere Aetherkapsel.
Keine zahnbewehrten Schlünde. Keine hungrigen Schatten.
Er atmete aus. Sein Herz raste. Normalerweise verblassten seine Träume kurz nach dem Aufwachen, doch dieser war anders. So intensiv. So real. Mit zusammengepressten Lippen betrachtete er seine Hände, seine Füße. Fast überraschte es ihn, dass nichts fehlte.
Er streifte die durchgeschwitzte Decke ab und verließ den Frachtraum. Er fühlte sich so schwach, dass er sich bei jedem Schritt irgendwo festhalten musste. Vorne im Steuerraum saß Vorod Khoroj und unterhielt sich leise mit einem seiner Leibwächter. Der Anblick hatte etwas seltsam Beruhigendes an sich.
Eine Gestalt löste sich aus dem Halbdunkel und kam den Gang herunter. Liam. In der Hand hielt er die Kaffeekanne. Er sah nicht gut aus. Bleich, mit tiefen Ringen unter den Augen.
Er musterte Jackon. »Du also auch? Komm nach hinten. Die anderen sind schon alle wach.«
Sie gingen zum Aufenthaltsraum, wo Vivana, Quindal, Nedjo und Lucien saßen. Der Alb war der Einzige, der nicht übernächtigt aussah. Die anderen waren leichenblass.
»Lady Sarka ist uns allen im Traum erschienen«, sagte Liam, nachdem er den Kaffee verteilt hatte. »Sie hat uns mit Albträumen heimgesucht, den schlimmsten, die wir je erlebt haben. Ich wurde von Dämonen gehetzt. Vivana hat von ihrer toten Mutter geträumt. Bei Nedjo muss es besonders schrecklich gewesen sein, aber er will uns nicht sagen, was er gesehen hat.«
Jackon blickte zu dem jungen Manusch, der geistesabwesend auf seiner Unterlippe kaute und nicht zu hören schien, dass über ihn gesprochen wurde.
»Zu mir hat sie gesagt, dass sie morgen Nacht wiederkommen wird«, sagte Vivana. »Und in den nächsten Nächten auch. Bis sie uns vernichtet hat.«
»Ja«, murmelte Jackon. »Das hat sie mir auch gesagt.«
»Ich verstehe nicht, wie das möglich ist«, meinte Lucien. »Woher hat sie auf einmal diese Macht? Ich dachte, sie wäre in den Traumlanden weitgehend hilflos ohne dich.«
»Früher war sie das, aber jetzt nicht mehr.« Jackon berichtete, was er von Lady Sarka erfahren hatte.
»Unsere Essenz«, wiederholte Lucien. »Nun, das erklärt einiges. Ich wusste doch, es war ein Fehler, Tornes Messer liegen zu lassen.«
»Was ist eine Essenz?«, fragte Jackon.
»Konzentrierte magische Energie.«
»Hält die Wirkung für immer an?«
»Nein, ausgeschlossen. Bei der geringen Menge magischer Kraft, die in Tornes Messer gewesen ist, vielleicht eine Woche. Höchstens zwei.«