»Aber dann ist es ja nicht so schlimm«, sagte Jackon. »Wenn die Wirkung der Essenz nachlässt, verliert sie ihre Macht und ist wieder so schwach wie früher.«
»So einfach ist es leider nicht«, erwiderte Lucien. »Lady Sarka verdankt ihre Fähigkeiten ja nicht der Essenz, die sie aus unseren Kräften gewonnen hat. Die Essenz hilft ihr nur, ihre Macht zu kontrollieren. Sobald sie genug Übung hat, ist sie darauf nicht mehr angewiesen.«
»Du glaubst also, ihre Kräfte bleiben, auch wenn die Essenz nicht mehr wirkt?«, fragte Vivana.
»Ich fürchte, so ist es.«
»Heißt das, wir müssen diese Albträume jetzt jede Nacht ertragen?«, fragte Quindal.
»Wenn uns nichts einfällt, wie wir uns dagegen schützen können – ja.«
Leider war dies nicht die einzige schlechte Nachricht des Tages. Gegen Mittag türmten sich am Horizont brodelnde Wolkenberge auf, und das Luftschiff wurde von heftigen Windböen durchgeschüttelt. Quindal, der Khoroj im Steuerraum abgelöst hatte, weckte den Südländer und besprach mit ihm die Situation.
Liam und Jackon gesellten sich zu ihnen.
»Sind wir in Gefahr?«, fragte der Blonde.
»Mach dir keine Sorgen«, antwortete Khoroj. »Die Jaipin hat schon so manchen Sturm überstanden. Aber wenn der Gegenwind so stark bleibt, brauchen wir einen Tag länger bis nach Yaro D'ar.«
»Kann uns der Aether ausgehen?«
Quindal überprüfte die Kontrollen. »Der Reservetank ist voll. Das sollte reichen, selbst wenn uns der Sturm zu einem Umweg zwingt.«
Vivana kam angelaufen. »Ruac hat Probleme. Ich glaube, er kann nicht mehr.«
Jackon eilte mit ihr, Liam und Khoroj nach hinten zum Aufenthaltsraum, und sie schauten aus dem Heckfenster. Schräg hinter der Jaipin durchbrachen mehrere Klippen die windgepeitschten Wellen. Auf einem der schwarzen Felsen saß Ruac und hatte die Flügel angelegt.
»Er braucht eine Pause«, sagte Vivana. »Wir müssen so lange auf ihn warten.«
»Maschinen auf halbe Kraft!«, rief Khoroj nach vorne, und Quindal drosselte die Motoren. Kurz darauf stand das Luftschiff eine halbe Meile von den Felsen entfernt in der Luft. Quindal ließ die Propeller mit geringer Leistung weiterlaufen, damit sie nicht vom Wind abgetrieben wurden.
Die Stunden verstrichen. Der Sturm zog glücklicherweise an ihnen vorbei, aber der Wind ließ nicht nach. Irgendwann am späten Nachmittag war Ruac ausgeruht genug, um weiterzufliegen. Er spreizte die Schwingen, erhob sich in die Luft und schloss zu ihnen auf. Quindal fuhr die Motoren hoch, und sie setzten ihre Reise nach Süden fort.
Jackon saß im Steuerraum und bemerkte, dass Khoroj mit sorgenvoller Miene die Kontrollen studierte.
»Die Pause hat uns viel Treibstoff gekostet«, sagte der Südländer. »Wenn sich der Lindwurm noch mal ausruhen muss, bevor wir die Küste erreichen, könnte es Probleme geben.«
»Dann hoffen wir besser, dass er es schafft«, erwiderte Quindal leise.
Und wenn nicht?, dachte Jackon. Lassen wir ihn zurück?
Er spähte den Gang hinunter zum Aufenthaltsraum. Vivana saß am Fenster, als sei sie entschlossen, Ruac nicht mehr aus den Augen zu lassen. Sie würde nie erlauben, dass sie ohne ihn weiterflogen. In tausend Jahren nicht.
Auch Jackon hing inzwischen an Ruac. Der Lindwurm war ein vollwertiges Mitglied ihrer Gruppe, ein Gefährte, genau wie die anderen. Und er hatte sie gerettet, dreimal sogar. Jackon würde ihn nicht im Stich lassen. Niemals.
Du kannst auf mich zählen, versicherte er Vivana stumm.
Nach Einbruch der Dunkelheit versammelten sich die Gefährten im Aufenthaltsraum. Keiner war erpicht darauf, schlafen zu gehen, also tranken sie starken Kaffee und hielten sich gegenseitig mit Geschichten und Rätselspielen wach.
Jackon setzte sich zu Lucien. »Kann ich dich etwas fragen?«
»Was gibt es?«
»Ich habe noch einmal über alles nachgedacht. Die Träume und das Pandæmonium und so weiter. Wir überlegen uns die ganze Zeit, wie wir Lady Sarka aufhalten können, aber was danach mit den Traumlanden geschieht, darüber macht sich keiner Gedanken. Wer sorgt dafür, dass die Träume wieder in Ordnung kommen? Wer passt auf die Boten und Sammler auf und repariert die Seelenhäuser, wenn sie kaputt gehen?«
Lucien kaute am Mundstück seiner Pfeife. »Mein Volk nicht, so viel steht fest. Sie haben ihre Entscheidung getroffen.«
»Aber irgendwer muss sich darum kümmern.«
»Wir fragen den Phönix.«
»Und du meinst, er weiß eine Lösung?«
»Seine Macht ist gewaltig, beinahe gottgleich. Er wird die Träume retten, wenn er erst wieder frei ist. Hab Vertrauen.«
»Und wenn nicht?«
»Eins nach dem anderen, Jackon. Jetzt müssen wir erst einmal wohlbehalten nach Yaro D'ar kommen. Dann sehen wir weiter.«
Jackon wünschte, er hätte Luciens Gelassenheit. Lustlos nahm er einen Schluck aus seiner Tasse und ließ den Rest kalt werden. Er konnte keinen Kaffee mehr sehen.
»Du bist dran«, wandte sich Liam an Lucien.
»Womit?«
»Gib uns ein Rätsel auf. Oder erzähl uns eine Geschichte.«
»Aber eine spannende, wenn ich bitten darf«, sagte Quindal. »Ich schlafe gleich ein.«
»Also gut.« Lucien nahm seine Geschichtenerzählerpose ein und stopfte seine Pfeife. »Kennt ihr die Legende von Fene und Usin? Nein? Nun, das wundert mich nicht, sie ist sehr alt. Heute kann sich kaum noch jemand daran erinnern.
Fene war eine Vila und lebte in den Hügeln von Karst. Wie alle Vilen ernährte sie sich von der Lebenskraft der Menschen, die so leichtsinnig waren, ihre Schlucht zu betreten. Eines Tages traf sie Usin, einen jungen Manusch. Usin war ein Wahrsager, und obwohl er erst zweiundzwanzig Sommer zählte, besaß er beträchtliche Macht, denn damals war die Magie noch stark. Er floh vor Räubern und wusste sich nicht anders zu helfen, als sich in Fenes Schlucht zu verstecken. Fene wollte über ihn herfallen und seine Lebenskraft aussaugen, doch als sie ihn sah, verliebte sie sich in ihn. Sie gewährte Usin Zuflucht in ihrer Höhle, bis die Räuber die Jagd nach ihm aufgaben.
Usin blieb viele Tage bei ihr und erholte sich von seinen Wunden. Bis jetzt hatte Fene die Menschen verachtet und sie für dumme, schwache Geschöpfe gehalten, für Schlachtvieh, dessen einziger Lebenszweck darin besteht, getötet und verspeist zu werden. Ihre Liebe zu Usin lehrte sie jedoch, dass die Sterblichen eine Seele besaßen und obendrein Klugheit, Einfallsreichtum, Witz und Mut, und da schwor sie, niemals wieder einen Menschen zu töten.
Usin nahm sie mit zu seinem Clan. Die anderen Manusch fürchteten sich vor der Vila, doch da sie große Achtung vor den Wesen der Schattenwelt empfanden und Usin respektierten, überwanden sie bald ihre anfängliche Abscheu und behandelten Fene wie eine der ihren.
So erfuhr sie, dass die Manusch seit vielen Jahren von einem bösen Nigromanten geknechtet wurden. Der Totenbeschwörer verschleppte ihre Kinder, stahl ihr Vieh und tötete jeden, der sich ihm widersetzte. Usin und die Krieger waren machtlos gegen ihn. Als Fene die Verzweiflung des Clans sah, beschloss sie, den Manusch zu helfen. Nur wie? Mit Waffengewalt konnte man nichts gegen den Nigromanten ausrichten. Außerdem hatte er seinen Turm mit Bannsprüchen vor Schattenwesen geschützt, sodass Fene sich nicht an ihn anschleichen und ihn töten konnte. Schließlich traf sie eine Entscheidung: Sie schenkte ihre gesamte magische Kraft ihrem Geliebten, damit er die Macht besaß, den Totenbeschwörer zu bezwingen. Noch in derselben Nacht ging Usin zum Turm des Nigromanten und streckte seinen Feind mit einem Zauberspruch nieder.
Endlich waren die Manusch frei, doch Fene hatte einen hohen Preis gezahlt. Durch den Verlust ihrer magischen Kraft war sie sterblich geworden. Wenige Jahre später wurde sie krank und starb in Usins Armen. Dennoch bereute sie ihre Entscheidung nicht, denn Usins Liebe und die Freundschaft der Manusch bedeuteten ihr mehr als ewiges Leben.«