Выбрать главу

Lucien hatte seine Kapuze zurückgeschlagen. Falls Jerizhin sich über sein ungewöhnliches Aussehen wunderte, so zeigte sie es nicht.

»Bitte entschuldigt, dass ihr so lange warten musstet«, sagte die Kapitänmagistratin, nachdem sie sich zu ihnen gesetzt hatte. »Ich versinke gerade in Arbeit. In den letzten Tagen sind Besorgnis erregende Dinge geschehen. Und stündlich gibt es neue schlechte Nachrichten.« Sie beherrschte die Sprache des Nordens beinahe akzentfrei.

»Was ist passiert?«, fragte Khoroj, obwohl sie alle längst die Antwort kannten.

Jerizhin legte die Hände auf die Armlehnen. Sie wirkte erschöpft, wenngleich sie ihre Gefühle so gut unter Kontrolle hatte, dass es Vivana kaum auffiel. »Ich fürchte, ihr habt euch einen schlechten Zeitpunkt für euren Besuch in Suuraj ausgesucht. Im Dschungel sind merkwürdige Kreaturen aufgetaucht. Dämonen, sagen die Astrophilosophen. Wir wissen nicht, woher sie kommen, aber es steht fest, dass sie keine freundlichen Absichten haben. Einige haben uns vorgestern angegriffen. Glücklicherweise konnten wir sie zurückschlagen. Flussaufwärts soll es noch schlimmer sein. Heute Morgen ist ein Luftschiff aus Kamanuii gelandet. Die Besatzung sagt, die Dämonen hätten das Stadtfloß überrannt und viele Bewohner getötet. Meine Kundschafter suchen den Fluss nach Überlebenden ab, aber bis jetzt haben sie keine gefunden. Aus dem Süden hören wir ähnliche Dinge. Die Dämonen treiben offenbar im ganzen Land ihr Unwesen.«

»Nicht nur in Yaro D'ar«, sagte Khoroj. »Auch Bradost wird angegriffen. Und vermutlich viele andere Städte. Sogar im Meer haben wir welche gesehen. Sie scheinen überall ins Diesseits einzudringen.«

Jerizhin nickte düster, als hätte sie so etwas erwartet. »Die Astrophilosophen haben die Theorie, dass ihr Auftauchen etwas mit den Traumstörungen zu tun hat, die vor einigen Wochen aufgetreten sind. Aber sie können nicht erklären, warum die Dämonen plötzlich in der Lage sind, das Pandæmonium zu verlassen. Es sind schlimme Zeiten, Vorod. Und ich fürchte, das ist erst der Anfang.«

Für einen Moment herrschte bedrücktes Schweigen. Vivana spielte mit dem Gedanken, Jerizhin zu erzählen, was sie über die Dämonen und den Niedergang der Traumlanden wussten. Doch Liam, der ihr ansah, was sie dachte, schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie hatten sich darauf geeinigt, Jerizhin vorerst nicht in ihre Pläne einzuweihen. Khoroj hatte zwar versichert, dass sie der Kapitänmagistratin bedingungslos vertrauen konnten, doch sie wollten kein Risiko eingehen.

»Du hast noch gar nicht erzählt, was euch nach Suuraj führt«, sagte Jerizhin schließlich. »Seid ihr auf der Flucht vor den Dämonen?«

»Wir sind nur auf der Durchreise«, antwortete Khoroj. »In ein oder zwei Tagen, wenn wir uns ausgeruht haben, fahren wir weiter nach Süden. Meine Geschäfte erfordern dort meine Anwesenheit.«

Jerizhin musterte Vivana und ihre Freunde und schien sich zu fragen, welches Geschäft solch seltsame Weggefährten erforderte. Doch sie war so diskret, Khoroj nicht weiter zu bedrängen. »Gut. Dann seid so lange meine Gäste. Meine Diener werden euch Zimmer herrichten. Ich werde nicht viel Zeit für euch haben, aber so müsst ihr wenigstens nicht in den Aeronauten-Quartieren unten in der Stadt wohnen.«

»Das ist sehr freundlich von Euch«, sagte Vivanas Vater. »Ich hoffe, wir machen Euch keine Umstände.«

»Das ist selbstverständlich. Und hört bitte mit diesem Ihr- und Euch-Unsinn auf. Ich bin Kapitänmagistratin, keine Königin.«

Vivana unterdrückte ein Lächeln. Jerizhin wurde ihr immer sympathischer.

»Kann ich sonst noch etwas für euch tun?«, fragte die Südländerin.

»Ja«, sagte Khoroj. »Aber es ist mir sehr unangenehm, dich darum zu bitten.«

»Sei nicht albern, Vorod. Wir kennen uns jetzt seit fünfzehn Jahren. Wir haben uns immer gegenseitig geholfen.«

»Wir brauchen Treibstoff und Ersatzteile für die Jaipin. Leider haben wir nicht genug Geld. Wir mussten Bradost sehr überstürzt verlassen.«

»Wie viel brauchst du?«

»Ich schätze, sechshundert Shii.«

»Wenn das alles ist...« Jerizhin gab einem ihrer Diener eine entsprechende Anweisung. Dabei klang ihre Stimme befehlsgewohnt, aber nicht herrisch. Sie besaß eine natürliche Autorität und schien bei ihren Untergebenen großen Respekt zu genießen. Der Mann verschwand im Nebenraum und kam mit einer geschnitzten Kassette aus Teakholz zurück. »Das müsste genügen. Falls nicht, lass es mich wissen.«

Sichtlich verlegen nahm Khoroj die Kassette entgegen. »Da wäre noch etwas. Wir leiden sehr unter den Traumstörungen und suchen einen Trank, der uns davor schützt. Weißt du, ob die hiesigen Hermetiker so etwas haben?«

»Ich fürchte, dieses Elixier ist gerade sehr begehrt. Nur ein Hermetiker in der Stadt stellt es her. Ich glaube nicht, dass er noch Vorräte hat. Aber ich habe genug gekauft. Andernfalls wäre ich schon längst nicht mehr in der Lage, dieses Stadtfloß zu führen. Ihr könnt davon haben.«

In diesem Moment kam ein uniformierter Bote herein und überreichte ihrer Gastgeberin eine Nachricht. Mit düsterer Miene studierte Jerizhin den Bericht, ging ins Nebenzimmer, wo ihr Schreibtisch stand, und verfasste eine Antwort, die sie dem Boten mitgab.

»Leider muss ich euch jetzt allein lassen. Die Aeronauten haben zwei Dutzend Flüchtlinge aus Kamanuii aus dem Fluss gerettet. Ich muss mich um sie kümmern. Fühlt euch hier wie zuhause. Meine Diener bringen euch den Trank und zeigen euch eure Zimmer.«

Die Kapitänmagistratin ging.

Vivana hörte ein Brummen und blickte aus dem Fenster. Ein Luftschiff fuhr dicht am Kapitänspalast vorbei und verdeckte dabei die Sonne, sodass es für einen Moment dunkel im Turmzimmer wurde.

Plötzlich war sie so müde, dass sie es kaum noch schaffte, aufzustehen und dem Diener zu ihrem Bett zu folgen.

Knistern von Papier weckte Liam. Ein paar Sekunden blieb er reglos liegen, betrachtete die gewölbte Zimmerdecke und dachte einen Moment, er wäre in der Passagierkajüte eines Schiffs. Das runde Fenster glühte im abendlichen Sonnenlicht. Es war überraschend kühl.

Er fühlte sich so ausgeruht wie seit Tagen nicht. Ein Hoch auf Jerizhins Wundertrank! Damit schlief man zwar nicht ganz so erholsam wie sonst, aber das war immer noch besser, als von Lady Sarka und ihren Albträumen geplagt zu werden.

Vivana saß auf der Bettkante und las in einem Buch. Er beobachtete sie eine Weile und lächelte, weil sie überhaupt keine Notiz von ihm nahm. Sie besaß die Gabe, sich so sehr in eine Sache zu vertiefen, dass sie die Welt um sich herum völlig vergaß.

»Was liest du da?«

»Das ist eins von Livias Büchern«, antwortete sie, ohne aufzusehen. »Ich muss etwas nachschauen.«

Liam umschlang Vivanas Oberkörper mit den Armen, küsste ihren Nacken und setzte sich neben sie. Unverständliche Buchstaben bedeckten das vergilbte Pergament – die geheime Schriftsprache der Manusch. Im Moment ihres Todes hatte Livia Vivana beigebracht, sie zu lesen. Innerhalb von ein paar Sekunden hat sie eine ganze Sprache gelernt. Liam schauderte. Er würde nie verstehen, was vor ein paar Tagen in Godfreys Versteck vorgefallen war.

»Tante Livia kannte mehrere Zaubersprüche, um mit ruhelosen Geistern fertigzuwerden«, sagte Vivana. »Aber ich fürchte, das, was wir brauchen, ist nicht dabei.«

»Ruhelose Geister?«

»Mahoor Shembar. Wenn er so böse ist, wie ich glaube, wird er uns kaum freiwillig helfen. Wir werden ihn zwingen müssen, mit uns nach Bradost zu kommen.«

Liam kaute auf seiner Unterlippe. Er hatte den Gedanken, dass sie womöglich bald einem dreitausend Jahre alten Untoten begegneten, in den letzten Tagen erfolgreich verdrängt.