Plötzlich fiel ihm auf, was Vivana gerade gesagt hatte. »Was meinst du damit, er muss mit uns nach Bradost kommen?«
»Na ja, wie soll er sonst den Bindezauber aufheben?«
»Kann er das nicht dort machen, wo er ist?«
»So funktioniert das nicht. Er muss Lady Sarka sehen. Noch besser wäre es, er berührt sie, damit er die Aura des Phönix spüren kann.«
Liam stand auf und fuhr sich durch die Haare. »Wissen die anderen davon?«
»Ich dachte, das wäre euch klar.«
»Du bist die Einzige von uns, die einen Schnellkurs in Magie gemacht hat, schon vergessen? Komm. Wir müssen das den anderen sagen. Ich fürchte, sie gehen davon aus, dass es damit getan ist, nach Ilnuur zu fliegen und den Sterndeuter zu finden.«
Eine halbe Stunde später saßen sie in Jerizhins Gemächern. Die Kapitänmagistratin war nicht da, aber ihre Diener sorgten dafür, dass es ihnen an nichts fehlte, und brachten Essen und kalte Getränke. Alle hatten ein paar Stunden geschlafen und wirkten einigermaßen ausgeruht. Auch Lucien sah frischer aus. Er schien sich auf dem Stadtfloß bedeutend wohler zu fühlen als an Bord der Jaipin.
Erwartungsgemäß reagierten Quindal und Khoroj bestürzt, als Liam berichtete, dass es ein neues Problem gab.
»Warum hast du uns das nicht früher gesagt?«, wandte sich der Erfinder an Vivana. »Das wirft unsere ganzen Pläne über den Haufen!«
»Ach, wir haben Pläne?«, erwiderte sie gereizt. »Unser großartiger Plan lautet, nach Ilnuur zu gehen und einen untoten Sterndeuter zu suchen. Aus irgendwelchen Gründen ist uns noch nicht mehr eingefallen. Lass mich mal überlegen, warum. Vielleicht weil wir seit Tagen auf der Flucht sind und versuchen, nicht zu sterben?«
»Hört auf damit«, sagte Lucien, der rittlings im offenen Fenster saß und Pfeife rauchte. »Lasst uns lieber überlegen, was wir jetzt machen. Angenommen, wir schaffen es, Mahoor Shembar zu finden und davon zu überzeugen, uns zu helfen – wie bringen wir ihn unbemerkt nach Bradost? Lady Sarka weiß, was wir vorhaben. Sie wird uns vernichten, bevor wir auch nur in ihre Nähe kommen.«
»Das Problem ist die Jaipin,« sagte Khoroj. »Lady Sarka kennt jetzt mein Luftschiff. Wenn ihre Leute uns sehen, schießen sie uns sofort ab.«
»Können wir die Jaipin nicht irgendwie tarnen?«, fragte Jackon. »Oder uns von Jerizhin ein anderes Luftschiff leihen?«
»Das bringt nichts«, erwiderte Quindal. »Wie ich Corvas und die Lady kenne, lassen sie jedes Luftschiff überprüfen, das sich der Stadt nähert.«
»Sie haben gerade andere Sorgen«, sagte Liam. »Die Soldaten sind wahrscheinlich alle damit beschäftigt, gegen die Dämonen zu kämpfen. Vielleicht bemerken sie uns nicht.«
»Darauf würde ich mich nicht verlassen.«
»Und wenn wir nachts fliegen, ohne Licht?«
»Zu gefährlich«, antwortete Khoroj. »Wir müssten irgendwo in der Stadt oder am Stadtrand landen, damit uns niemand sieht. Also auf einer Straße oder einem Platz. So etwas ist selbst bei Tag riskant, sogar mit einem kleinen Schiff wie der Jaipin. Im Dunkeln wäre es selbstmörderisch. Außerdem sind da immer noch die Dämonen. Bei Nacht wären wir leichte Beute für sie.«
»Wie wäre es mit einem Ablenkungsmanöver?«, schlug Lucien vor. »Ein Luftschiff allein hat wahrscheinlich keine Chance, nach Bradost zu kommen. Mehrere schon.«
»Wie meinst du das?«, fragte Quindal stirnrunzelnd.
»Ich schätze, es läuft so: Wir fliegen nach Bradost, irgendwer sieht uns und meldet es Corvas, er lässt die Phönix starten, damit sie uns abfängt. Angenommen, wir hätten eine kleine Flotte – sagen wir, sieben oder acht Luftschiffe. Sie könnten die Phönix und die anderen Schiffe von Lady Sarka in Kämpfe verwickeln und von uns weglocken. Das würde uns die Zeit verschaffen, die wir brauchen, um Mahoor Shembar in die Stadt zu bringen.«
»Und wo willst du so viele Luftschiffe hernehmen?«
»Da draußen sind genug«, entgegnete der Alb. »Ich zähle zehn. Nein, elf.«
»Das ist die Luftflotte von Suuraj«, sagte Khoroj. »Sie hat die Aufgabe, das Stadtfloß zu schützen, nicht, Bradost anzugreifen.«
»Rede mit Jerizhin. Sag ihr, was wir vorhaben. Sie ist klug. Wenn sie erfährt, dass Lady Sarka für das Auftauchen der Dämonen verantwortlich ist, wird sie uns helfen.«
»Du willst sie in unsere Pläne einweihen?«, fragte Quindal.
»Seht ihr eine andere Möglichkeit?«, erwiderte Lucien.
Liam dachte darüber nach. Was der Alb vorschlug, lief darauf hinaus, dass viele Aeronauten von Suuraj für Liam und seine Freunde in den Krieg zogen. Er konnte nicht behaupten, dass ihm das gefiel. Aber so sehr er sich auch den Kopf zerbrach, ihm fiel keine andere Lösung für ihr Problem ein. Lady Sarka war zu mächtig für sie. Ohne Hilfe hatten sie keine Chance.
»Ihr könnt das nicht von Jerizhin verlangen«, sagte Khoroj. »Suuraj wird von Dämonen bedroht. Sie braucht jedes einzelne Luftschiff hier.«
Quindal schien sich für Luciens Idee zu erwärmen. »Der beste Schutz vor den Dämonen ist, dafür zu sorgen, dass die Risse in den Lichtmauern verschwinden. Andernfalls werden immer neue Dämonen in unsere Welt eindringen. Diesen Krieg kann sie auf Dauer nicht gewinnen. Niemand kann das. Sag ihr das.«
»Sie wird uns nicht glauben.«
»Doch, das wird sie«, widersprach Lucien. »Sie hat uns von den Theorien der Astrophilosophen erzählt, die der Wahrheit recht nahe kommen, und ihnen glaubt sie auch. Wie steht sie zu Lady Sarka?«
»Sie ist ihr noch nie persönlich begegnet, aber sie weiß, was in Bradost geschieht. Sie hält sie für gefährlich und größenwahnsinnig.«
»Dann wird es sie nicht überraschen zu hören, dass Lady Sarka hinter den Traumstörungen steckt.«
Khoroj gab auf. »Gut. Versuchen wir es. Aber erwartet nicht zu viel. Jerizhin kann sehr stur sein, wenn es um die Sicherheit Suurajs geht.«
»Das will ich doch hoffen. Sonst wäre ich eine schlechte Kapitänmagistratin, nicht wahr?«
Liam und seine Freunde blickten zur Tür. Jerizhin stand dort. Leiser Spott glitzerte in ihren Augen.
»Oh-oh«, murmelte Jackon.
Khoroj räusperte sich verlegen. »Bist du schon lange hier?«
»Etwa ab da, als du so treffend meine Meinung über Lady Sarka dargestellt hast.« Jerizhin schloss die Tür und setzte sich an den Tisch. »Warum fangt ihr nicht noch einmal von vorne an?«
29
Aufbruch nach Ilnuur
Es war bereits nach Mittag, als Jackon, Liam, Vivana und Lucien vom Hospital zurückkamen, wo sie Nedjo besucht hatten. Die Luft über der Landeplattform kochte geradezu, so heiß war es. Die Hülle der Jaipin glühte in der Sonne wie reines Silber. Khorojs Leibwächter luden gerade die letzten Aetherfässer ein.
Jackon wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Er war für dieses Klima einfach nicht geschaffen. Und dabei stand ihm das Schlimmste noch bevor: die Wüste. Sehnsüchtig betrachtete er den Ausschnitt des Flusses, den man von der Plattform aus sehen konnte. Am liebsten wäre er hineingesprungen.
»Wie geht es Nedjo?«, erkundigte sich Vivanas Vater, der bei Khoroj neben der Gondel stand.
»Sein Zustand hat sich kaum verändert«, antwortete Vivana. »Die Ärzte wollen ihn noch ein paar Tage dabehalten.«
Quindal schnaubte belustigt. »Heute Abend ist er weg. Spätestens morgen Früh. Vielleicht hätten wir ihnen sagen sollen, dass sie ihn einsperren müssen.«
»Er hat gesagt, er will bleiben. Es scheint ihm dort zu gefallen.«