»Und wie?«
»Dir fällt schon etwas ein. Komm. Sagen wir den anderen Bescheid.«
Als Lucien bemerkte, dass Jackon ihm nicht folgte, blieb er stehen. »Was ist?«
»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.«
»Unsinn. Du schaffst das schon.«
»Das meine ich nicht. Es ist wegen meiner Gabe. Sie hat mir bis jetzt nichts als Arger eingebracht. Ich... ich will kein Traumwanderer mehr sein«, fügte Jackon zögernd hinzu.
Lucien schwieg lange, ehe er erwiderte: »Was meinst du, wie oft ich mir gewünscht habe, ich wäre ein Mensch? Trotzdem bin ich ein Alb geblieben. Wir können uns nun einmal nicht aussuchen, was wir sind. Also müssen wir zusehen, dass wir das Beste daraus machen. Du bist ein Traumwanderer, Jackon, ob es dir gefällt oder nicht. Aber jetzt hast du die Chance, deine Kräfte für etwas Sinnvolles einzusetzen. Lass sie dir nicht entgehen, nur weil du Angst hast.«
Leichter gesagt als getan, dachte Jackon niedergeschlagen, schob die Hände in die Hosentaschen und folgte Lucien zu den anderen.
»Können wir?«, fragte Khoroj, als Vivana und Liam ihr Gepäck seinen Leibwächtern reichten, die es in der Gondel der Jaipin verstauten.
Vivana nickte. »Wir sind so weit.«
»Viel Glück«, sagte Jackon. »Seid vorsichtig.«
Während sich Vivana von ihm und Jerizhin verabschiedete, starteten die Motoren des Luftschiffs. Ihr Vater, Khoroj und Liam stiegen ein.
Plötzlich erklang das Läuten einer Glocke.
Verwundert wandte Vivana sich um und sah mehrere Soldaten im Laufschritt die Treppen heraufkommen. »Was ist denn los?«
»Dämonen!«, stieß Jerizhin hervor.
Im nächsten Moment herrschte auf der Plattform heillose Aufregung. Jerizhin gab einem Offizier Befehle und eilte mit den Soldaten zur Brüstung. Von den Magistratsgebäuden kamen noch mehr Bewaffnete. Auf einem Turm in der Nähe luden zwei Kanoniere hektisch ein Geschütz.
Vivana und Jackon liefen um die Jaipin herum. Jetzt konnten sie sehen, was den Alarm ausgelöst hatte: ein geflügelter Schemen, der sich von Norden näherte. Noch war er weit entfernt, aber so schnell, wie er flog, würde er das Stadtfloß in wenigen Minuten erreicht haben.
Die Soldaten gingen hinter der Brüstung in Deckung und legten mit ihren Gewehren an.
Vivana hielt den Atem an, als eine ganz und gar unvernünftige Hoffnung in ihr aufstieg.
Konnte das wirklich sein?
Sie kniff die Augen zusammen. Ja. Eindeutig.
Wie war das nur möglich?
Sie rannte zu Jerizhin.
Der Offizier brüllte etwas, und die Soldaten zielten auf das fliegende Geschöpf.
»Nicht!«, rief Vivana. »Das ist kein Dämon! Es ist Ruac!«
»Was redest du da?«, knurrte die Kapitänmagistratin. »Geh sofort zurück zur Jaipin!«
»Das ist mein Lindwurm! Bitte, Sie dürfen nicht auf ihn schießen! Er gehört zu uns. Er wird niemandem etwas antun.«
Der Hauptmann begann, auf Jerizhin einzureden. Offenbar bat er um die Erlaubnis, feuern zu dürfen. Die Kapitänmagistratin zögerte jedoch, denn jetzt kamen auch Khoroj, Jackon, Liam und Lucien angerannt und brüllten: »Nicht schießen! Nicht schießen!«
»Wir haben gedacht, er wäre tot«, sprudelte es aus Vivana hervor, »aber er muss es irgendwie geschafft haben, den Dämonen zu entkommen und uns nachzufliegen. Keine Ahnung, wie er das gemacht hat, aber er ist es, ganz sicher.«
»Ja, das ist Ruac, zweifellos«, wandte sich Khoroj an Jerizhin. »Sag deinen Männern, dass sie nichts zu befürchten haben.«
Die Südländerin rief einen Befehl, und die Männer ließen unschlüssig die Waffen sinken. Der Hauptmann schien die Welt nicht mehr zu verstehen und warf fluchend die Hände in die Luft.
Ruac war nun nur noch gute hundert Schritt von Suuraj entfernt. Vivana lief ihm entgegen. Als der Lindwurm sie entdeckte, stieß er herab und landete auf der Plattform.
Sie schlang die Arme um seinen Hals, drückte ihn an sich und lachte und weinte gleichzeitig. »Oh Ruac! Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt, weißt du das? Ich habe gedacht, ich sehe dich nie wieder.«
Der Lindwurm rieb seinen Kopf an ihr. Liam, Jackon und Lucien umringten ihn, streichelten ihm lachend die Schuppen und nannten ihn »guter Junge« und »Teufelskerl«. Ruacs Augen leuchteten voller Wiedersehensfreude. Jerizhin und die Soldaten beobachteten das Geschehen aus sicherer Entfernung.
»Wie hat er uns gefunden?«, fragte Liam.
»Vermutlich ist er der Aetherspur der Jaipin gefolgt«, erklärte Lucien. »Lindwürmer haben ein sehr feines Gespür für solche Dinge. Außerdem wusste er ungefähr, wohin wir wollen.«
»Und die Dämonen?«
»Schau ihn dir doch an. Offenbar hat er ihnen einen harten Kampf geliefert.«
Erst jetzt fiel Vivana auf, wie zugerichtet Ruac aussah. Er war nicht ernstlich verletzt, aber von der Schnauze bis zur Schwanzspitze zerkratzt und zerschrammt. An seinen Krallen klebte schwarzes Dämonenblut.
»Der lange Flug hat ihn völlig erschöpft«, sagte sie. »Er muss sich ein paar Tage ausruhen, damit er wieder zu Kräften kommt.«
»Ich kann mich um ihn kümmern, während ihr in Ilnuur seid«, bot Jackon an.
»Das würdest du machen?«
»Ja. Natürlich nur, wenn Ruac das möchte.«
Der Lindwurm rieb seinen Schädel an Jackons Schulter und warf den Rothaarigen beinahe um.
»Ich glaube, das heißt Ja«, meinte Liam.
30
Die Stadt im Sand
Vivanas Vater steuerte die Jaipin auf geradem Kurs nach Süden. Vivana saß bei ihm auf der Brücke und betrachtete den Regenwald, der viele hundert Fuß unter ihnen dahinzog.
Diese Weite...
Obwohl sie vor dem Start die Karten im Navigationsraum studiert hatte, wurde ihr erst jetzt bewusst, wie riesig Yaro D'ar war. Allein der Dschungel im Norden des Landes musste größer sein als Torle und Barkisien zusammen, denn das Luftschiff brauchte bei einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von achtundreißig Knoten mehr als fünf Stunden, bis es den Waldrand erreichte.
Jenseits davon erstreckte sich eine endlose Steppe, erst grün und von Flüssen durchzogen, dann trocken und immer karger. Die Bewohner dieser Gegend lebten nicht in Stadtflößen, sondern in gewöhnlichen Siedlungen an Seen und Flussläufen. Auf ihrer Fahrt folgte die Jaipin einige Stunden der Küste, wo Vivana mehrere große Hafenstädte erblickte: dicht gedrängte Ansammlungen weiß getünchter Steinhäuser, blitzender Kuppeln und schlanker Türme, umgeben von Wehrmauern, Äckern und Plantagen. Das Meer war gesprenkelt von Fischerbooten und aetherbetriebenen Barken, und am Himmel zogen Luftschiffe ihre Bahnen.
Im Lauf des Nachmittags wechselten sich schroffe Gebirgszüge ab mit immergrünen Wäldern, Hügeln und fruchtbarem Flachland. Als es Abend wurde, hatte die Jaipin vierhundert Meilen zurückgelegt, und trotzdem war die Grenze von Yaro D'ar noch lange nicht in Sicht – so gewaltig war dieses Land. Wenn Vivana nach Osten blickte, erahnte sie in der Ferne die Wüste. Irgendwo dort lag die geheimnisvolle Stadt Ilnuur. Das Ziel ihrer Reise.
Bei Einbruch der Dunkelheit übernahm einer von Khorojs Leibwächtern das Steuer, und die Gefährten gingen schlafen. Als Vivana aufwachte, schien die Morgensonne in die Passagierkabine. Liam war bereits aufgestanden. Während sie ihr Haar bürstete, schaute sie aus dem Bullauge. Das Luftschiff befand sich inzwischen über der Wüste. Nichts als zerklüftete Felsen, Sanddünen und Ebenen, über die der Staub tanzte, so weit das Auge reichte. Tief unter ihr kroch der winzige Schatten der Jaipin über die Ödnis.