Vivana hatte über die Wüste von Yaro D'ar gelesen, aber Bücher waren eine Sache und die Wirklichkeit eine vollkommen andere. Diese Gegend war genauso menschenfeindlich wie das Pandæmonium. Hier gab es kein Wasser, kein Leben, nichts, und schon eine einzige falsche Entscheidung konnte den Tod bedeuten.
Mit einem Gefühl beklemmender Enge in der Brust verließ sie die Kabine.
Ihre Gefährten hielten sich auf der Brücke auf. Liam saß am Steuer und ließ sich von ihrem Vater die Funktionen der verschiedenen Armaturen und Kontrollen erläutern.
»Dein Vater war so nett, mich ans Steuer zu lassen«, erklärte Liam, als er Vivanas verwunderten Blick bemerkte. »Ich habe mir schon immer gewünscht, mal ein Luftschiff zu fahren.«
»Der Junge ist ein Naturtalent«, fügte der Erfinder hinzu. »Er hat auf Anhieb alles richtig gemacht, ohne dass ich ihm etwas erklären musste.«
»Na ja, es ist auch nicht schwieriger, als einen Blitzfänger zu bedienen.«
»Wie lange brauchen wir noch bis nach Ilnuur?«, fragte Vivana.
»Es ist nicht mehr weit«, antwortete Lucien. »Noch ein, zwei Stunden, schätze ich.«
Sie setzte sich und betrachtete die ockerfarbene Landschaft, während sie an ihrem Kaffee nippte. Die Wüste war nicht so unbewohnt und verlassen, wie es den Anschein hatte. Am Horizont entdeckte sie eine Staubwolke, die sich über eine ausgetrocknete Ebene bewegte. Sie konnte keine Einzelheiten erkennen, aber als die Jaipin in einer Entfernung von wenigen Meilen daran vorbeifuhr, wurde ihr klar, dass es sich nicht um Tiere handelte, wie sie zuerst gedacht hatte – sondern um Dämonen, eine ganze Horde davon.
Sogar hier, dachte sie. Es werden immer mehr.
Bedrückt schwiegen die Gefährten. Erst als eine Stunde später ein rostroter Bergrücken in Sicht kam, sagte Vivanas Vater: »Wir sind gleich da. Macht euch bereit für die Landung. Liam, es wäre mir recht, wenn du mich wieder ans Steuer lassen könntest. In Gebirgsnähe gibt es häufig gefährliche Aufwinde, das ist nichts für Anfänger.«
Liam machte dem Erfinder bereitwillig Platz. Vivanas Vater steuerte die Jaipin parallel zu dem Felsmassiv, das auf einer Länge von mehreren Meilen wie der schrundige Hornpanzer eines gigantischen Schalentiers aus dem Dünenmeer ragte. Er ließ sich eine von Jerizhins Landkarten geben und breitete sie auf seinen Knien aus. »Laut der Karte müsste Ilnuur am Fuß dieses Ausläufers liegen.«
»Ich glaube, da vorne ist es«, sagte Lucien.
Vivana und Liam traten ans Bugfenster. Es dauerte einen Moment, bis Vivana die Ruinenstadt ausmachen konnte – sie bestand gänzlich aus dem kupferfarbenen Gestein des Bergrückens und war vor dem Hintergrund der rotbraunen Hänge schwer zu erkennen. Sie lag am Fuß einer nahezu senkrechten Felswand und besaß zur Wüste hin Bollwerke und Wehrmauern, gegen die die Dünen anbrandeten, als wollten sie Ilnuur verschlingen. Die Überreste einst anmutiger Türme reckten sich wie gesplitterte Baumstümpfe dem Himmel entgegen. Straßen, zerfallene Paläste und Kuppelbauten versanken im Sand.
Aus der Bergflanke wuchs eine zerklüftete Felsnadel. Sie überragte die Ruinen um gut dreihundert Fuß, und ihre Spitze krönte ein Ring aus rußgeschwärzten Säulen.
Der Horst des Phönix. Hier hatte der Feuervogel einst über Ilnuur gewacht, bevor Mahoor Shembar ihn mit seiner Gier nach Macht und Unsterblichkeit vertrieben hatte.
Trauer überkam Vivana beim Anblick des verlassenen Säulenrings, beinahe wie an jenem Morgen vor acht Jahren, als das Feuer auf der Spitze des Bradoster Phönixturms erloschen war. Die Ruinenstadt strahlte eine derart erdrückende Einsamkeit aus, dass sie sich für einen Moment wie der letzte Mensch auf Erden fühlte.
Die Winde, die gegen das Felsmassiv peitschten, schüttelten die Jaipin kräftig durch, doch Vivanas Vater steuerte das Luftschiff mit ruhiger Hand zum Zentrum Ilnuurs. Dort, auf einem freien Platz inmitten der Ruinen, landete er. Die Propeller wirbelten den Wüstensand auf, sodass man für einige Augenblicke vor den Fenstern nur ockerfarbene Schlieren sah, bevor die Jaipin sanft aufsetzte und die Motoren verstummten.
In Suuraj hatten sich die Gefährten mit Ausrüstung aller Art und passender Kleidung eingedeckt. Sie schlüpften in weiße Überwürfe, wie sie die Wüstenbewohner trugen, schlangen sich zum Schutz gegen die Sonne Tücher um Kopf und Hals und schulterten Rucksäcke, die Werkzeug, Seile, Lampen und reichlich Wasser enthielten. Vivanas Vater schob sich außerdem eine doppelläufige Pistole hinter den Gürtel, während Liam eine Hakenlanze und Vivana einen Dolch an sich nahmen.
»Ich schlage vor, dass Vorods Männer hierbleiben, während wir uns in der Stadt umsehen«, sagte der Erfinder. »Ich will die Jaipin nicht unbewacht zurücklassen.«
»Einverstanden«, erwiderte Lucien. »Aber bevor wir uns auf die Suche nach Shembar machen, verschaffe ich mir einen Überblick über die Lage. Ich habe keine Lust, hier dasselbe Desaster zu erleben wie in dem Handelsposten.«
Vivanas Vater öffnete die Luke der Gondel, und trockenheiße Luft schlug ihnen entgegen. Lucien kletterte hinaus und huschte über den Platz. Bevor er zwischen den Ruinen verschwand, bemerkte Vivana, dass er sich unauffällig machte.
Nach einer Stunde kehrte er zurück.
»Keine Dämonen weit und breit«, berichtete er. »Die Stadt ist so verlassen wie ein Friedhof.«
Die Gefährten stiegen aus der Gondel.
»Du hast ja deine Kräfte wieder«, sagte Vivana.
»Nur die Unauffälligkeit. Die anderen sind noch ziemlich schwach.«
»Irgendeine Spur von Shembar?«, fragte Vivanas Vater.
»Nein, aber ich habe auch nicht danach gesucht«, antwortete Lucien. »Es würde mich wundern, wenn er sich hier oben in den Ruinen aufhält. Untote mögen kein Sonnenlicht.«
»Du meinst, er versteckt sich unter der Erde, so wie die Ghule?«, fragte Liam.
»Die meisten größeren Gebäude scheinen Keller zu haben. Möglich, dass die ganze Stadt wie Bradost von Katakomben und alten Abwasserkanälen untertunnelt ist. Dort sollten wir suchen. Ich habe etwas gesehen, das ein Zugang sein könnte.«
Sie folgten dem Alb zu einer Prachtstraße, die, gesäumt von den Überresten imposanter Paläste, zu einem der Tore Ilnuurs führte. Der Marsch durch die Geisterstadt war eine beklemmende Erfahrung. Abgesehen von dem Wind, der klagend um Dächer und Turmspitzen heulte und Staubschwaden vor sich hertrieb, war es vollkommen still. Trotzdem fühlte Vivana sich beobachtet, als sie zu den schwarzen Fenstern der Ruinen aufblickte.
Wir sind hier nicht allein, vergiss das nicht. Irgendwo in diesen Gemäuern haust Mahoor Shembar, und er ist alt und böse.
Die Gebäude, an denen sie vorbeikamen, besaßen eine Architektur, die sich grundlegend von der Bradosts unterschied. Die gewöhnlichen Wohnhäuser waren einstöckig und glichen einfachen Quadern mit meist einem Eingang und einer Treppe, die an der Außenseite zum Dach hinaufführte. Viele waren beinahe vollständig von Wüstensand bedeckt. Die größeren Paläste und Tempel besaßen fast alle einen zentralen achteckigen Kuppelbau, den verschachtelte Nebentrakte umgaben. Vor den Toren standen Säulen und Statuen von Panthern mit Flügeln und Skorpionschwänzen, vom ewigen Wind abgeschliffen und ihrer Konturen beraubt. Alles war aus rostrotem Gestein erbaut, was die Atmosphäre von Verfall und unvorstellbarem Alter noch verstärkte.
Vivana hatte sich gefragt, wie eine Stadt mit einst Tausenden von Einwohnern in solch einer menschenfeindlichen Gegend existieren konnte. Während sie mit ihren Gefährten die Straße entlangging, gewann sie den Eindruck, dass dieses Land nicht immer eine Wüste gewesen war. Aquädukte und Brunnen deuteten darauf hin, dass es einst Wasser im Überfluss gegeben hatte, und verwitterte Reliefs an den Tempelmauern zeigten herrliche Landschaften mit Ackern, Wiesen und kleinen Wäldern.