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Sie konnte nur Vermutungen darüber anstellen, was hier geschehen war. Hatten die Menschen Ilnuur aufgegeben, nachdem der Phönix verschwunden war? Hatte die Wüste daraufhin dieses fruchtbare Fleckchen Erde nach und nach zurückerobert?

»Hier ist es«, sagte Lucien, als sie einen kleinen Platz im Schatten einer Turmruine erreichten. Den größten Teil davon nahm eine kreisrunde Grube ein, eine alte Zisterne, zu der ein zerfallenes Aquädukt führte. Ein steinernes Dach, das auf mehreren Säulen ruhte, hatte sie weitgehend vor dem Sand geschützt.

Über einen Trümmerhaufen stiegen die Gefährten in die fünf Schritt tiefe Grube hinab. Mehrere mannshohe Wasserleitungen führten in die Dunkelheit.

Vivana und ihr Vater zündeten ihre Karbidlampen an. Der Erfinder leuchtete nacheinander in die Tunnel.

»Das scheint ein zentraler Verteiler gewesen zu sein«, sagte er. »Sieht mir nach einem ziemlichen Labyrinth aus. Die Gänge verzweigen sich nach ungefähr zwanzig Fuß.«

»Wenn das Tunnelsystem so groß wie die Stadt ist, finden wir Mahoor Shembar nie«, meinte Liam.

»Irgendwo müssen wir mit der Suche anfangen. Also, meine Herrschaften, wenn ich bitten darf...«

»Warte, Paps«, sagte Vivana, als ihr Vater Anstalten machte, das Gewirr der Tunnel zu betreten. »Ich habe eine bessere Idee.«

Sie zog ihren Rucksack vom Rücken, setzte sich auf einen Steinblock und begann, mit dem Dolch Symbole in den Sand auf den Steinplatten zu kratzen. Zeichen des Verlorenen Volkes, uralt und kraftvoll. Das Wissen um ihre Macht war plötzlich da, und ihre Hand bewegte sich wie von selbst.

»Was machst du da?«, fragte Liam.

»Im Pandæmonium hat uns Livia mit einem Suchzauber aufgespürt. Ich versuche, damit Mahoor Shembar zu finden. Das ist sicherer als einfach so in die Tunnel zu spazieren.«

»Brauchst du dafür nicht einen persönlichen Gegenstand desjenigen, den du suchst?«, erkundigte sich Lucien.

»Normalerweise schon. Aber zur Not geht es auch ohne. Jetzt seid bitte still. Ich muss mich konzentrieren.«

Schweigend schauten ihre Gefährten dabei zu, wie sie Symbol um Symbol in den Sand zeichnete. In Bradost war die Magie viel zu schwach für einen derartigen Zauber, aber hier in Ilnuur, fernab jeglicher Zivilisation, war sie ein klein wenig stärker – wenn sie die Augen schloss, spürte sie die unsichtbaren Kraftlinien in der Erde. Vielleicht genügte es.

Damit der Zauber wirkte, musste sie versuchen, sich Mahoor Shembar möglichst genau vorzustellen. Was wusste sie über ihn?

So gut wie nichts.

Sie stand auf, blickte zu der Felsnadel, die über den Ruinen aufragte. Doch ... Er war reich. Ein angesehener Sterndeuter und Nigromant, von seinen Nachbarn geachtet, von seinen Feinden gefürchtet. Er hat Schattenwesen versklavt und sich ihre Kräfte einverleibt, um Macht zu gewinnen. Doch das genügte ihm nicht. Er wollte noch mehr Macht, und seine Gier danach war so groß, dass er eines Tages beschloss, den Phönix an sich zu binden.

Grausam und skrupellos. Heimtückisch und gerissen.

Hitze durchströmte Vivana, als Energien in der Erde heraufstiegen und sich mit den Kräften in ihrem Innern verbanden.

Die Symbole begannen zu glühen.

Vivana schloss die Augen.

Wo ist er?

Die Zeichen im Sand verbrannten zu Schlacke. Die Hitze ebbte ab und hinterließ eine Ahnung, eine Art innerer Kompass, der ihr sagte, wohin sie gehen musste. Das Gefühl war sehr schwach; aufgrund der spärlichen Informationen, die sie über Mahoor Shembar besaß, konnte sich der Zauber nicht voll entfalten.

»Wir müssen da entlang«, sagte Vivana, schulterte ihren Rucksack und führte ihre Gefährten zu einer der unterirdischen Wasserleitungen.

»Du lernst allmählich, deinen neuen Kräften zu vertrauen«, bemerkte Lucien anerkennend.

Vivana war sich nicht sicher, ob das stimmte. Sie hatte nach wie vor das Gefühl, Livias Vermächtnis nicht gewachsen zu sein. »Noch haben wir Mahoor Shembar nicht gefunden«, erwiderte sie unbestimmt.

Der Tunnel besaß Mauern aus Ziegelsteinen und eine tonnenförmige Decke und war so schmal, dass den Freunden nichts anderes übrig blieb, als ihm im Gänsemarsch zu folgen. Vivanas Vater ging mit seiner Lampe voraus und nahm bei jeder Abzweigung die Richtung, die sie ihm nannte.

Es handelte sich tatsächlich um ein Labyrinth, und ohne Vivanas Suchzauber hätten sie sich bald hoffnungslos verlaufen. Die Tunnel bildeten ein verzweigtes Netz, das sämtliche Zisternen und Brunnen der Stadt miteinander verband. An vielen Stellen blockierten Schutt und Sand die Gänge, sodass sie häufig nicht in die Richtung gehen konnten, die der Zauber anzeigte. Mehrmals mussten sie umkehren und einen anderen Weg einschlagen, in der Hoffnung, an einer späteren Stelle wieder auf den richtigen Tunnel zu stoßen. Dabei wurde Vivanas innerer Kompass manchmal so schwach, dass sie stehen bleiben und die Augen schließen musste, bis sie ihn wieder spürte.

»Ich frage mich, wie wir hier je wieder hinausfinden sollen«, murmelte ihr Vater, während er mit seiner Lampe im Vorbeigehen eine halb eingestürzte Kammer ausleuchtete.

»Vertrau deiner Tochter«, sagte Lucien. »Sie weiß, was sie tut.«

Weiß ich das?, fragte sich Vivana bedrückt.

Sie waren etwa eine halbe Stunde unterwegs, als sich die Beschaffenheit der Tunnel änderte. Die Gänge, durch die sie nun wanderten, schienen nicht mehr zu dem alten System der Wasserversorgung zu gehören; sie waren breiter und höher, und die Wände bestanden wie die Bauten in der Stadt aus rostroten Steinquadern. Treppen, die einst nach oben geführt hatten, lagen unter Trümmern begraben. Feiner Wüstensand bedeckte den Boden und bildete in Ecken und Winkeln winzige Dünen. Nischen klafften im Mauerwerk, gefüllt mit etwas, das wie klobige Amphoren aussah.

Urnen, dachte Vivana. Das sind Grabkammern.

Mit jedem Schritt wurde ihr innerer Kompass stärker. »Passt auf, wir sind gleich da«, sagte sie leise.

Der Gang endete an einem Schuttberg, der sich unter einem gähnenden Loch in der Decke auftürmte. Flink stieg Lucien hinauf, nahm die Lampen entgegen und half den Gefährten der Reihe nach beim Klettern. Auf der anderen Seite war der Sand auf dem Boden so tief, dass man bis zu den Knöcheln darin versank. Er war durch Spalten und Risse in den Wänden eingedrungen, und wenn man den Haufen zu nahe kam, rieselte sofort neuer nach.

»Seht mal da«, sagte Liam mit einem Zittern in der Stimme. Er war stehen geblieben und leuchtete in einen Winkel.

Ein Gesicht blickte ihnen entgegen, ledrig, eingefallen, den lippenlosen Mund vor Qual verzerrt. Der Rest des Körpers war vollständig von Sand bedeckt.

»Nur eine Leiche«, sagte Lucien. »Lasst uns weitergehen.«

Es blieb nicht bei diesem grausigen Fund. Als sie tiefer in die Grabgänge vorstießen, entdeckten sie weitere Tote, fast ein Dutzend. Die meisten waren teilweise im Sand vergraben, sodass man nur Arme oder Beine sehen konnte. Manche jedoch lagen aufgebahrt in Nischen oder auf Steinblöcken. Hitze und Trockenheit hatten sie vollständig mumifiziert.

Man hat sie vor langer Zeit hier bestattet, dachte Vivana. Aber was ist mit denen in den Gängen? So, wie die Leichen im Sand steckten, mit verkrümmten Gliedern und von Entsetzen gezeichneten Gesichtern, sah es eher danach aus, als wären sie bei einem Unglück ums Leben gekommen.

»Was tun wir, wenn wir Mahoor Shembar gefunden haben?«, fragte ihr Vater. »Reden wir mit ihm? Ich schätze, er wird uns nicht verstehen – falls man mit einem Untoten überhaupt reden kann.«

»Vielleicht doch«, erwiderte Lucien. »Er war zu Lebzeiten ein gebildeter Mann. Vermutlich beherrscht er mehrere Sprachen.«