»Ja. Bei unserem Glück solche, die seit Jahrhunderten kein Mensch mehr spricht, Alt-Barkisisch oder...«
»Seid leise«, befahl Vivana. Einige Schritte vor ihnen mündete der Tunnel in einen größeren Raum. Sie ließ sich von Liam die Lampe geben und bedeutete den anderen zu warten, während sie vorsichtig weiterging.
Vor ihr tat sich eine Halle auf, ein weitläufiger Saal mit baumdicken Säulen. Er besaß Ausgänge auf zwei Ebenen, einige auf Bodenniveau und die anderen auf einer Empore, die den Saal umlief. Schwaches Tageslicht fiel durch einen runden Schacht in der Kuppeldecke auf die Sandverwehungen zwischen Säulen und Schutthaufen.
Mehrere mumifizierte Körper lagen zusammengekrümmt auf dem Boden.
Vivana wagte kaum zu atmen.
Wind kam auf, ließ die Flamme ihrer Lampe flackern, heulte durch die Tunnel und wirbelte den Sand auf. Er war eiskalt.
Auf der Empore erschien eine Gestalt. Ihre Augen glühten fahl.
Die verderbte Präsenz, die den untoten Sterndeuter umgab, war so intensiv, dass Vivana unwillkürlich zurückwich. Ein vielstimmiges Wispern erklang aus den Schatten, als die böse Macht Mahoor Shembars den Saal erfüllte – und in die leblosen Körper fuhr.
»Nicht!«, rief sie. »Hör uns an, bitte!«
»Vivana, zurück!«, schrie in diesem Moment Liam hinter ihr.
Die Leichen auf dem Boden erwachten aus jahrhundertelangem Schlaf, erhoben sich mit knarzenden Gliedern und knackenden Gelenken. Dürre Finger griffen nach rostigen Klingen und Schwertern, während Sand herabrieselte.
Ein Schuss donnerte. Vivana wirbelte herum und sah im Lampenlicht ihrer Gefährten mehrere schwankende Gestalten, die sich aus dem Tunnel näherten. Ihr Vater hatte eine der wandelnden Leichen niedergeschossen, doch die Mumie stand einfach wieder auf und bewegte sich mit schleppenden Schritten vorwärts, als wäre nichts geschehen.
Vivanas Freunde rannten in den Saal.
»Da entlang«, rief Lucien und deutete auf einen Tunnel, der sicher zu sein schien.
»Nein. Er muss wissen, warum wir hier sind.« Vivana lief in die entgegengesetzte Richtung, zu jenem Teil der Empore, auf der Mahoor Shembar stand.
Ein Untoter tauchte aus den Schatten auf. Lumpen hingen wie die Reste eines Leichentuchs von seinen Armen und Schultern, und das getrocknete Fleisch seines Gesichts war löchrig, sodass der Schädelknochen hindurchschimmerte. Ungelenk schwang er einen uralten Krummsäbel. Vivana prallte zurück, die Waffe schmetterte gegen eine Säule und zerbrach. Der Untote streckte die Krallenhand aus, um sie zu packen.
Sie riss ihren Dolch aus der Lederscheide und stieß ihn in den dürren Arm, was das Geschöpf jedoch nicht einmal zu bemerken schien.
Krallenfinger gruben sich in ihre Schulter. Vivana keuchte vor Schmerz, ließ die Lampe fallen und sah gerade noch, dass ein zweiter Untoter hinter ihr aufgetaucht war, bevor sie herumgerissen wurde und zu Boden fiel.
Vier Hände griffen nach ihr. Abermals peitschte ein Schuss durch den Saal und riss einem der Angreifer den Kopf von den Schultern. Der Untote brach zusammen und regte sich nicht mehr. Der andere ließ von ihr ab und blickte sich um, offenbar um herauszufinden, woher der Schuss gekommen war. Vivana machte sich seine Verwirrung zu Nutze, verpasste ihm einen Tritt gegen das Knie und rappelte sich auf, während ihr Gegner um sein Gleichgewicht rang. Im nächsten Moment stürzte Lucien herbei und stieß der Mumie beide Messer in den Nacken, woraufhin sie zusammensackte.
»Warum hast du nicht auf mich gehört?«, fragte der Alb scharf.
»Wir müssen mit Mahoor Shembar reden. Wir dürfen jetzt nicht weglaufen.«
»Sieh dich mal um. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass er keine Lust auf ein Schwätzchen mit uns hat.«
Die Untoten, mindestens anderthalb Dutzend, näherten sich nun von allen Seiten. Dass sie Vivana und ihre Gefährten noch nicht umzingelt hatten, war allein dem Umstand zu verdanken, dass sie recht langsam und offenbar nicht sonderlich klug waren. Liam und ihr Vater standen neben einem Schutthaufen. Während der Erfinder hektisch seine Pistole nachlud, versuchte Liam, mit seiner Hakenlanze zwei Mumien, die sie bedrängten, in Schach zu halten.
Lucien rannte zu ihnen. Vivana wusste, dass sie eine andere Waffe brauchte – solange sie nicht so gut wie Lucien mit dem Dolch umgehen konnte, war das Messer nutzlos gegen Geschöpfe wie diese. Sie hob das Schwert der geköpften Mumie auf und folgte dem Alb.
Lucien und Liam hatten den ersten Untoten mit vereinten Kräften zu Fall gebracht und stachen auf ihn ein, bis er sich nicht mehr bewegte. Vivana kam gerade hinzu, als der zweite ihren Vater angreifen wollte. Sie hieb der wandelnden Leiche das Schwert in den Hinterkopf und spaltete ihr den Schädel. Als sie herumfuhr, schwang Vivana die breite Klinge mit aller Kraft und köpfte sie.
Dass die beiden Mumien besiegt waren, verschaffte den Gefährten nur eine kurze Atempause. Die anderen Untoten schlurften mit erhobenen Waffen heran, ein nahezu undurchdringlicher Wall aus mumifizierten Leibern, der sämtliche Fluchtwege blockierte.
»Auf den Schutthaufen!«, brüllte Lucien.
Hektisch kletterten die Gefährten auf den Hügel aus Trümmern und Geröll. Oben stellten sie sich Schulter an Schulter auf und beobachteten den Ring aus näher rückenden Mumien.
»Zielt auf Stellen, die das Skelett zusammenhalten«, sagte Lucien. »Den Hals, das Schlüsselbein, das Becken. Nur so kann man sie vernichten.«
»Es sind zu viele«, stieß Vivanas Vater hervor. »Wir können sie nicht alle zerstören.«
»Wir versuchen, uns den Weg freizukämpfen. Sowie in ihren Reihen eine Lücke entsteht, fliehen wir.«
Vivana umklammerte den Schwertgriff mit beiden Händen. »Das schaffen wir nicht. Vermutlich sind die Tunnel voll von Untoten. Wir müssen Mahoor Shembar begreiflich machen, dass wir nicht seine Feinde sind.«
»Zum letzten Mal«, sagte Lucien aufgebracht. »Er wird uns nicht zuhören. Er ist ein Monster, und alles, was er will, ist, uns zu töten.«
Die Mumien griffen an.
Schwerfällig erklommen sie den Schutthaufen. Vivanas Vater feuerte zweimal. Der erste Schuss ging daneben, doch der zweite zerfetzte einem Untoten die Wirbelsäule, woraufhin er zusammenbrach. Liam sprang vor und streckte einen Angreifer nieder, indem er ihm die Lanze in den Nacken rammte, bevor das Geschöpf die Kuppe des Trümmerhügels erreichte und sich aufrichten konnte. Auch Lucien stürzte in den Nahkampf, tauchte unter Schwerthieben hindurch und stieß seine Dolche in vertrocknete Leiber. Vivana kam ihm zu Hilfe, schlug einer Mumie den Arm ab und trat ihr so fest gegen die Hüfte, dass sie rückwärts den Geröllhaufen hinunterfiel.
Den Untoten, der sich ihr von der Seite näherte, bemerkte sie zu spät. Eine Säbelklinge schrammte über ihren Arm und schlitzte das Tuch des Überwurfs auf. Vivana schlug die Waffe zur Seite, ehe der Untote nachstoßen konnte, doch der Schwung ihrer unhandlichen Klinge ließ sie das Gleichgewicht verlieren. Sie strauchelte, ihr Gegner griff nach ihrer Kehle und drückte zu.
Die Untoten mochten langsam und ungeschickt sein, ihre Körperkraft dagegen war weit größer als die eines Lebenden. Vivana bekam keine Luft mehr, als die Knochenfinger ihren Hals umklammerten. Sie rammte dem Geschöpf das Knie in den Bauch, richtete damit jedoch nicht das Geringste aus. Im nächsten Moment lag sie auf dem Schutt und kämpfte dagegen an, das Bewusstsein zu verlieren, während der Untote immer fester zudrückte.
Das Klirren der Waffen, das Geschrei ihrer Freunde, all das sank zu einem Flüstern in der Ferne herab. Der Schmerz in ihren Lungen, eben noch so intensiv, dass er ihr Denken auslöschte, verschwand plötzlich, und sie sah die ledrige Fratze des Untoten, die klaffenden Augenhöhlen und die gelben Zahnstümpfe mit einer seltsamen Klarheit.
Diese Qual... Er kämpft dagegen an. Er will das nicht tun.