»Warum nicht jetzt schon?«
»Sie könnten versuchen, ein Treffen mit mir herbeizuführen, um den Grund zu erfahren. Ich möchte bereits fort sein, wenn sie meine Nachricht erhalten.«
Jayims Augen weiteten sich. »Das muss ein ziemlich wichtiges Geheimnis sein.«
Arleej lächelte grimmig. »Ja. Ich hoffe, es ist all diese Mühe wert.«
»Welche Mühe?«
Tanara war mit einem Tablett in der Tür erschienen. Als Arleej ihr die Situation erklärte, fühlte Leiard sich mit einem Mal schuldig. Er würde Jayim seiner Familie wegnehmen, und der Junge würde wahrscheinlich nie mehr zurückkehren. Dann kam ihm ein anderer Gedanke, und er stöhnte leise.
»Was ist los?«, fragte Arleej.
Er sah sie entschuldigend an. »Die Weißen könnten von dir und den Bäckers erfahren, dass ich fortgegangen bin, weil ich ein Geheimnis habe, das ich vor ihnen verbergen will.«
Sie verzog das Gesicht. »Was Grund genug wäre, um dich suchen und zurückbringen zu lassen.« Sie zuckte die Achseln. »Ich habe ohnehin nicht die Absicht, in ihre Nähe zu kommen.« Sie schaute Tanara an. »Ich bezweifle, dass die Weißen dich und deinen Mann aufsuchen werden. Sie sind zu beschäftigt damit, einen Krieg vorzubereiten. Aber nur für den Fall des Falles, könntet ihr für einige Wochen weggehen? Wenn ihr Geld für ein Quartier braucht, können wir es euch geben.«
»Millo hat einen Bruder oben im Norden«, erklärte Tanara. »Wir haben ihn schon seit einiger Zeit nicht mehr besucht.«
»Dann fahrt zu ihm«, sagte Arleej. »Ich denke, ich kann mich von den Weißen fernhalten, solange sie noch einen Traumweberratgeber haben, mit dem sie sich besprechen können.« Sie wandte sich an Leiard. »Hast du jemanden im Sinn, der diese Rolle übernehmen könnte?«
Er schüttelte den Kopf. »Das wäre deine Entscheidung oder die von Auraya.«
Sie schürzte die Lippen, dann kniff sie die Augen zusammen. »Da Auraya nicht in der Stadt ist und die anderen Weißen mit Kriegsvorbereitungen beschäftigt sind, wird man die Angelegenheit wahrscheinlich bis zu ihrer Rückkehr verschieben – es sei denn, ich könnte einige Kandidaten benennen. Hm, das ist ein Problem, das zu lösen einige Zeit erfordern wird.« Sie trommelte mit den Fingern auf den Tisch und dachte nach. »Meine Leute werden vor der Armee aufbrechen. Wir werden immer einen guten Tagesritt von den Zirklern entfernt sein. Die Weißen werden nicht wissen, dass du bei uns bist, und selbst wenn sie es herausfinden, werden sie zu viel zu tun haben, um nach dir zu suchen. Ich würde gern in der Nähe bleiben, während du deine Vorbereitungen triffst. Du könntest meine Hilfe brauchen.«
Leiard neigte den Kopf. »Vielen Dank. Ich hoffe, das wird nicht nötig sein.«
Der östliche Horizont wurde stetig heller und warf ein schwaches, kühles Licht auf das Meer.
Als Auraya mit Tyrli den Strand entlangging, dachte sie über ihre ersten Eindrücke von der Heimat des Sandstamms nach. Sie hatte die Siyee mit hohen Bergen und Wäldern in Verbindung gebracht, aber nachdem sie am vergangenen Tag ihre Lauben inmitten der baumlosen Dünen gesehen hatte, hatte sie ihr Bild korrigieren müssen. Sie lebten recht gut hier an den Stränden von Si, was nur noch deutlicher machte, was sie verloren hatten, als die torenischen Siedler ihnen die fruchtbaren Täler ihrer Heimat gestohlen hatten.
»Hast du alles, was du brauchst?«, fragte Tyrli.
»Alles, bis auf genug Zeit«, antwortete sie. Oder Leiards Empfehlungen, fügte sie bei sich hinzu. Er hatte seit Tagen keine Traumvernetzungen mit ihr gesucht, was es ihr erleichtert hatte, am Morgen vor Aufgang der Sonne aufzustehen. An den beiden vorangegangenen Tagen war sie früh erwacht und hatte sich über den Grund für sein Schweigen den Kopf zerbrochen.
»Wenn du mehr Zeit hättest, könnte ich dich mit den Elai bekannt machen, die mit uns Handel treiben, aber es wird noch fast ein Monat vergehen, bevor sie sich das nächste Mal bei uns melden werden.«
»Ich wäre gern länger geblieben, und sei es auch nur, um deinen Stamm besser kennenzulernen«, erklärte sie aufrichtig. Sie hatte nur wenig davon gesehen, wie sein Volk lebte, und sie hätte gern mehr über diese Leute erfahren. »Juran drängt mich, mich sobald wie möglich mit den Elai zu treffen.«
»Es wird sich später eine Möglichkeit dazu finden lassen«, erwiderte er.
»Dafür werde ich auf jeden Fall sorgen.« Sie sah ihn an. »Ich werde in etwa zehn Tagen in das Offene Dorf zurückkehren.«
Er nickte. »Wir werden bereit sein.«
Sie reagierte auf seine grimmige Zuversicht mit einem Lächeln. Er hatte Boten in das Offene Dorf zurückgeschickt, die den Siyee dort von dem Eindringen der Pentadrianer und von Jurans Bitte berichtet hatten, die Weißen in den bevorstehenden Kämpfen zu unterstützen. Auraya seufzte und blickte über das Wasser.
»Du solltest gegen Mittag dort eintreffen«, bemerkte er.
»Wie finde ich den Weg dorthin?«, fragte sie.
Er wandte sich den Bergen zu und streckte die Hand aus. »Siehst du den Berg mit dem doppelten Gipfel?«
»Ja.«
»Nimm die Strecke von dort hierher zu uns und fliege diesen Kurs weg von dem Berg. Du wirst rechts von dir die Küste sehen, und wenn du sie nach einigen Stunden nicht mehr sehen kannst, halte dich rechts, bis du die Küste wieder erkennen kannst. Folge ihr bis zum Ende der Halbinsel, dann flieg direkt nach Süden. Es gibt eine Menge kleiner Inselchen rund um Elai. Wenn du mehr als eine Stunde geflogen bist, ohne eine dieser Inseln zu sehen, hast du dein Ziel verfehlt und solltest dich wieder in Richtung Norden wenden.«
Sie nickte. »Ich danke dir für alles, Tyrli.«
Er neigte den Kopf. »Viel Glück, Auraya von den Weißen. Fliege hoch, fliege schnell, fliege wohl.«
»Mögen die Götter dich leiten und beschützen«, erwiderte sie.
Auraya wandte sich wieder dem Meer zu, zog Magie in sich hinein und ließ sich emportreiben. Der Strand blieb unter ihr zurück, bis Tyrli nur noch ein kleiner Punkt in einer großen, geschwungenen Fläche aus Sand war. Sie blickte über die Berge hinaus und prägte sich die Position des doppelten Gipfels ein, bevor sie in die entgegengesetzte Richtung flog.
Während der letzten Monate hatte sie sich daran gewöhnt, die Bewegungen der Siyee nachzuahmen. Jetzt, da sie allein war, erschien es ihr nicht länger notwendig, so zu tun, als sei sie dem Sog der Erde unterworfen. Sie begann zu experimentieren. Die Siyee konnten nur so schnell fliegen, wie der Wind und ihre Ausdauer es zuließen. Auraya hatte keine Ahnung, wie schnell sie sich bewegen konnte, daher beschleunigte sie ihr Tempo.
Der Wind war jetzt schon ein Problem, und sie vermutete, dass es dieser Faktor sein würde, der ihr Einschränkungen auferlegte. Er peitschte ihr ins Gesicht, trocknete ihre Augen aus und ließ sie frieren. Sie konnte Magie benutzen, um sich zu wärmen, aber als sie schneller flog, stellte sie fest, dass sie Jen Zugriff auf diese Wärme rasch verlor. Seltsamerweise fiel es ihr auch immer schwerer zu atmen.
Sie schuf einen magischen Schild vor sich, der ihr Tempo abrupt verlangsamte, wie ein Ruder, das man durchs Wasser zog. Aber sie brauchte kein Ruder, sie brauchte... eine Pfeilspitze. Von dieser Erkenntnis getrieben, veränderte sie die Form ihres Schildes, so dass er jetzt mühelos die Luft durchschnitt. Der Schild lenkte den Wind ab, und Auraya konnte wieder atmen.
Mittlerweile bewegte sie sich schneller, als sie es je zuvor getan hatte, sei es zu Land oder am Himmel, aber diesen Umstand konnte sie nur daran erkennen, dass der Wind rasend schnell an ihr vorbeiströmte.
Nach einer Weile konnte sie einen Schatten am Horizont ausmachen – die Küste, von der Tyrli gesprochen hatte. Wie berauscht flog sie weiter.
Borra war noch immer zu weit entfernt, als dass sie es hätte sehen können, aber bisher war sie gut vorangekommen. Nach einigen Minuten kamen bereits die ersten Inseln in Sicht. Schon bald folgten weitere, dann konnte sie größere Inseln vor sich erkennen. Während die kleineren Inseln wie Sanddünen aussahen, auf denen die Flut Pflanzen angespült hatte, wirkten die größeren Inseln wie halb versunkene Berge.