Die Treppe vibrierte unter dem Schritt eines anderen. Danjin drehte sich um; Lanren Liedmacher, einer der militärischen Ratgeber, kam auf ihn zu.
»Wir sollten ihnen folgen«, murmelte der Mann. »Ich bezweifle, dass die Armee auf uns warten wird, wenn wir uns nicht den Priestern anschließen.«
»Ja«, pflichtete Danjin ihm bei. Er ging die Stufen hinunter und gesellte sich zu den anderen Ratgebern. Als die letzten Priester und Priesterinnen sich der Kolonne anschlossen, wies Lanren sie an, ihre Plätze einzunehmen.
Auraya betrachtete die Überreste ihres gestrigen Abendessens und verzog das Gesicht. Sie mochte Fisch, aber die einzige Art, die sie am vergangenen Abend hatte fangen können, waren Holzfische. Diese waren bekanntermaßen fade, und sie hatte keine Gewürze oder Kräuter gefunden, die ihrem Mahl etwas Aroma hätten verleihen können. Sie hatte sich mit dieser geschmacklosen Kost abgefunden, nur um von Eindrücken des wunderbaren Festmahls gequält zu werden, an dem Danjin sich zur gleichen Zeit während ihrer gedanklichen Unterredung erfreut hatte.
Wenn ich gewusst hätte, dass ich tagelang auf einer unbewohnten Klippe lagern würde, hätte ich mir etwas zu essen mitgenommen. Und ein Stück Seife.
Sie hatte sich soeben in einem kleinen Teich mit Regenwasser gewaschen, den sie am Tag zuvor entdeckt hatte. Ihr einstmals blendend weißer Zirk war mittlerweile ein wenig schmuddelig, obwohl sie jeden Tag ihre Gaben benutzte, um Schmutz und Flecken zu entfernen. Manchmal kam es ihr so vor, als seien diese alltäglichen Aufgaben die einzige Verwendung für Magie, die sie hatte.
Nun ja, abgesehen vom Fliegen und von der Fähigkeit, die Gedanken anderer Menschen zu lesen, überlegte sie.
Schließlich trat sie an den Rand der Klippe und blickte zu den Inseln von Borra hinab. Sie war seit vier Tagen jeden Tag hierher zurückgekehrt. Und jedes Mal hatte der König ihr Audienzgesuch abgelehnt. Gestern war die Nachricht, die der Höfling sich eingeprägt hatte, jedoch anders ausgefallen.
»Sag ihr, dass ich sie nur dann empfangen werde, wenn sie in den Palast kommt.«
Befürchtete er, dass sie versuchen würde, ihn mit einer List dazu zu bringen, die Sicherheit seiner Unterwasserstadt zu verlassen? Gewiss hatten die Elai, die sie gesehen hatten, ihm berichtet, dass sie immer allein kam. Oder hatte er diese Bedingung aus reiner Bosheit gestellt, weil er glaubte, sie könne die Stadt nicht erreichen oder würde bei dem Versuch ertrinken?
Lächelnd erhob sie sich von dem Felsen. Obwohl sie die Stadt mühelos über den geheimen Weg zu dem Ausguck erreichen könnte, würde sie damit das Vertrauen der Elai nicht gewinnen. Wenn sie auf die Herausforderung des Königs eingehen wollte, musste sie den Palast über den unterseeischen Weg erreichen. Ihre Ankunft würde ebenso viel Neugier wie Furcht wecken. Die Elai würden wissen wollen, wie es ihr gelungen war, ihre Stadt zu erreichen, ohne zu ertrinken, und gleichzeitig würde es ihnen Angst machen, dass eine Fremde in ihre Heimat vorgedrungen war.
Sie hatte in den vergangenen Tagen reichlich Zeit gehabt, darüber nachzudenken, wie sie in den Palast kommen könnte. Sie hatte beobachtet, wie schnell diese fremdartigen Meeresmenschen schwimmen konnten und wie lange sie den Atem anzuhalten vermochten. Und diese Zeit war kürzer, als sie erwartet hatte. Sie konnten nur etwa drei- oder viermal so lange unter Wasser bleiben wie ein Landgeher, waren allerdings in der Lage, bemerkenswert schnell zu schwimmen. Sie selbst hatte kaum Erfahrung mit diesem Element, da sie als Kind nur gelegentlich in einer stillen Biegung des Flusses in der Nähe ihres Dorfes herum geplanscht hatte. Aber das sollte kein Problem sein. Sie hatte nicht die Absicht zu schwimmen.
Die Luft war an diesem Tag sehr feucht. Der Wind spielte mit den Wellen und ließ weiße Gischt aufschäumen. Die kräftigen Böen zwangen sie, ihr Tempo zu verlangsamen, so dass sie eine Stunde später als an den vergangenen Tagen ankam. Sobald sie die Inseln erkennen konnte, hielt sie auf diejenige mit den zwei Gipfeln zu. Sie stieg langsam hinab und bemerkte, dass die Strände dieser Insel verlassen waren. Ohne lange zu zögern, sandte sie ihren Geist aus und entdeckte mehrere Elai, die paarweise auf dem höchsten Gipfel und im Wasser Wache hielten. Als sie auf dem Sand landete, fing sie einen Gedankenfaden von den Wächtern auf. Sie war gesehen worden. Lächelnd ging sie aufs Wasser zu.
Kurz bevor sie die Wellen erreichte, blieb sie stehen und schuf einen magischen Schild um sich herum, bevor sie sich, immer noch aufrecht, ein wenig über den Boden erhob und vortrat. Als sie über tieferem Wasser angelangt war, ließ sie sich langsam hinabsinken. Der Schild tauchte ins Wasser, das sich seinem Eindringen widersetzte, aber sie hatte diese Prozedur inzwischen viele Male geübt. Die Luftblase um sie herum strebte der Oberfläche entgegen, was sie jedoch nicht zuließ. Sie stärkte ihren Schild, stieg weiter in die Tiefe hinab und drang in eine geisterhafte Welt vor.
Überall um sie herum schuf fütterndes Sonnenlicht eine Illusion von Bewegung. Die vom Wind aufgepeitschten Wellen wühlten den Meeresboden auf, und in den Sandschwaden unter ihr konnte Auraya bizarre Gestalten ausmachen. Gebilde, die die Form von Bäumen, Pilzen oder riesigen, gemusterten Eiern hatten, umgaben sie, und alle waren eingehüllt von Seegräsern und Algen, die von den Wellen hin und her getrieben wurden. Auch Fische verbargen sich in diesem eigenartigen Meeresgarten. Auraya vermutete, dass es sich um die gleichen Fischarten handelte, die sie bei ihren Versuchen, sich unter Wasser zu bewegen, verwirrt hatten, aber in dem schummrigen Licht wirkten ihre Farben trüb und gedämpft.
Plötzlich hatte sie das Ende dieses fantastischen Unterwasserwalds erreicht. Sie bewegte sich über den Rand eines Kliffs und blickte in endlose Finsternis hinab. Der Meeresboden konnte ebenso gut einige hundert wie mehrere tausend Schritte entfernt sein. Schaudernd stieg sie in die Tiefe hinunter. Den Gedanken der Elai hatte sie entnommen, dass ihr Bestimmungsort nicht mehr allzu weit entfernt war.
Als sie tiefer sank, stieß sie auf eine dunkle Gestalt, die sie umkreiste und dann innehielt. Die Elai – es war eine Frau -starrte sie an. Auraya lächelte, was die Frau jedoch nur aus ihrem Schockzustand herausriss und in die Flucht trieb.
Weitere Elai erschienen. Auch sie starrten sie nur an und huschten davon. Schwache Lichter zogen Auraya zu einem großen Loch in der Klippenwand. Etliche Elai benutzten diese Öffnung von beiden Seiten, aber als sie sie entdeckten, versiegte der Strom der Unterwassermenschen jäh. Einige schwammen um sie herum, bevor sie sich entfernten, andere machten bei ihrem Anblick sofort kehrt und verschwanden in dem Loch.
Das Licht kam, wie Auraya bemerkte, von den hässlichsten Fischen, die sie je gesehen hatte und die in kleinen Käfigen gefangen waren. Die Käfige waren paarweise aufgestellt, und die Tiere darin schienen vollkommen fasziniert voneinander zu sein. Als Auraya durch das Loch schwamm, kam sie an zweien dieser Fische vorbei. Der eine schoss blitzschnell auf den anderen zu, aber der Käfig sorgte dafür, dass seine scharfen Zähne sich nicht in das Fleisch des anderen Fisches graben konnten.
Die Luft in ihrem Schild war inzwischen ein wenig schal geworden. Sie widerstand der Versuchung, sich schneller zu bewegen, denn sie wollte die Elai nicht noch mehr ängstigen. Es kam ihr so vor, als sei sie eine Ewigkeit den langsam absteigenden Tunnel hinuntergeschwebt, bis sie endlich die erste Lufttasche erreichte.
Sie war ziemlich flach, aber doch breit genug, um mehreren Elai Platz zu bieten, die dort Atem schöpfen konnten. Sie wusste von den Elai, dass schmale Risse und Klüfte in den Felsen die Luft frisch hielten. Sie öffnete ihren Schild, um die frische, kühle Luft einzulassen. Dann versiegelte sie den Schild wieder und stieg von neuem in die Tiefe.