»Und deren Folgen«, ergänzte Leiard.
Mir gefällt die Einstellung des Jungen, bemerkte Mirar. Er hat einen ausgeprägten Sinn für Humor. Im Gegensatz zu dem Mann, in dem ich festsitze...
»Manchmal kommen die Liebenden damit durch«, stellte Jayim fest.
»Ein glückliches Ende solcher Affären ist ein Luxus, den man nur in Romanen und Theaterstücken findet«, entgegnete Leiard.
Jayim zuckte die Achseln. »Das ist wahr. Ich habe mir vorgestellt, was das für ein Geheimnis sein könnte, das du hütest. Ich hatte nicht erwartet, dass es etwas sein würde, das so... so...«
»So gewagt ist?«, beendete Leiard seinen Satz.
Jayim kicherte. »Ja. Es war eine Überraschung. Ich weiß nicht, warum, aber ich dachte, die Weißen würden nicht... ahm. – - ich dachte, sie leben keusch. Aber wahrscheinlich wäre das ein wenig zu viel verlangt von jemandem, der unsterblich ist. Vielleicht ist das der Grund, warum Mirar war, wie er war.«
Leiard unterdrückte ein Lachen. Also? War das der Grund, warum du dich so schlecht benommen hast?
Ich weiß es nicht. Vielleicht. Weiß irgendjemand, warum er die Dinge tut, die er tut?
Du hattest reichlich Zeit, es herauszufinden.
Manche Antworten kann man nicht finden, selbst wenn man alle Zeit der Welt hätte.
Unsterblichkeit macht einen nicht unbedingt allwissend.
»Ich frage mich, ob alle Weißen so sind«, überlegte Jayim laut. »Wenn die Unsterblichkeit sie dazu verleitet, sich so zu benehmen, so... du weißt schon. Gewiss hätten die Leute doch davon erfahren, wenn die anderen Weißen mit jedem ins Bett gingen, der ihnen über den Weg läuft.«
Leiard blickte entrüstet drein. »Auraya ist nicht mit jedem ins Bett gegangen, der ihr über den Weg gelaufen ist.«
»Es wäre durchaus möglich, dass sie es tut. Woher willst du das wissen?«
»Jetzt aber genug mit diesem Gerede«, sagte Leiard energisch. »Wenn du Zeit hast zu schwatzen, hast du auch Zeit für deinen Unterricht.«
Jayim schnalzte enttäuscht mit der Zunge. »Während wir unterwegs sind?«
»Ja. Du wirst während der nächsten Jahre noch viel auf Reisen sein, daher gewöhnst du dich am besten gleich daran, deine Ausbildung auf der Straße zu erhalten.«
Der Junge seufzte. Er drehte sich um, um über seine Schulter zu blicken, änderte dann aber seine Meinung.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich nach alledem nicht nach Hause zurückkehren werde«, murmelte er, und seine Stimme war so leise, dass man sie kaum hören konnte. Dann richtete er sich auf und sah Leiard an. »Also, was werde ich heute lernen?«
Irgendetwas ist passiert, befand Imi, während sie Teiti, ihrer Tante und Lehrerin, durch den Flur folgte. Zuerst war da der vor Anstrengung keuchende Bote gewesen, der sich Teiti hastig genähert und der alten Frau etwas ins Ohr geflüstert hatte, bevor er davongehumpelt war. Dann hatte Teiti ihr befohlen, den Teich und die anderen Kinder zu verlassen, und sie, ohne auf ihren Protest zu achten, nach Hause geschleppt. Sie waren über einen der geheimen Wege gegangen, ein Umstand, der sofort Imis Argwohn geweckt hatte. Als sie am Palast angekommen waren, hatten die Wachen ihr nicht zugelächelt, wie sie das normalerweise taten. Sie hatten sie vollkommen ignoriert und ernst und unnahbar gewirkt. Die Wachen, die stets an den Türen ihres Zimmers standen, hatten zwar gelächelt, aber auch sie hatten den Eindruck gemacht, als seien sie seltsam nervös.
»Was geht hier vor?«, fragte sie Teiti, als die Türen sich hinter ihnen schlossen. Teiti blickte auf Imi herab und runzelte die Stirn. »Ich habe es dir bereits gesagt, Prinzessin, ich weiß es nicht.«
»Dann finde es heraus«, befahl Imi.
Teiti verschränkte die Arme vor der Brust und machte ein missbilligendes Gesicht. Im Gegensatz zu den übrigen Palastdienern ließ Teiti sich nicht leicht einschüchtern. Sie war kein Lakai, sondern ein Familienmitglied, und stand im Rang nur geringfügig unter Imi. Doch die erwartete Schelte blieb aus. Der missbilligende Ausdruck in Teitis Zügen verwandelte sich in Sorge.
»Heilige Huan«, murmelte sie. »Warte hier. Ich werde gehen und feststellen, ob ich etwas in Erfahrung bringen kann.«
Imi lächelte und legte die Hände zusammen. »Vielen Dank! Bitte, beeil dich!«
Die alte Frau kehrte zu den Türen zurück, legte eine Hand auf den Griff und drehte sich dann noch einmal mit argwöhnischer Miene zu Imi um.
»Sei ein braves Mädchen, Imi. Geh nirgendwohin. Um deiner eigenen Sicherheit willen, bleib hier.«
»Ich verspreche es.«
»Wenn du bei meiner Rückkehr nicht mehr hier bist, werde ich dir nichts erzählen«, warnte sie ihre Nichte.
»Ich habe es doch schon gesagt, ich werde hierbleiben.«
Teiti kniff die Augen zusammen, dann wandte sie sich um und verließ den Raum. Als die Türen sich hinter der alten Frau schlossen, stürzte Imi in ihr Schlafzimmer. Sie lief zu einer Schnitzerei an einer der Wände und schob die Hand dahinter. Es dauerte nicht lange, bis sie den Riegel gefunden hatte. Sie schob ihn zurück, woraufhin die Schnitzerei lautlos aufschwang wie eine Tür.
Dahinter befand sich eine Öffnung. Ihr Vater hatte ihr dieses Loch vor vielen Jahren gezeigt. Falls irgendwelche bösen Menschen in den Palast eindringen sollten, so hatte er ihr erklärt, sollte sie durch das Loch kriechen und warten, bis sie dort waren. Er hatte ihr nicht erzählt, dass dieses Loch der Eingang zu einem Tunnel war. Diesen Umstand hatte sie eines Abends entdeckt, als die Langeweile stärker geworden war als ihre Furcht, sich an einen unbekannten, dunklen Ort zu wagen. Mit einer Kerze in der Hand hatte sie sich kriechend ein kleines Stück vorwärtsbewegt, bevor sie auf eine Mauer aus Stein und Mörtel gestoßen war.
Das Hindernis war jedoch nicht vollkommen unüberwindlich. Der Erwachsene, der es gemacht hatte, hatte offensichtlich zu wenig Platz gehabt, um sich zu bewegen, und war nicht gründlich genug zu Werke gegangen. Imi hatte Stimmen hören können, die durch Risse und Löcher in der Wand gedrungen waren. Stimmen, die sie nicht ganz deutlich verstehen konnte.
Also war sie einen Monat lang jeden Abend, nachdem sie eigentlich längst hätte im Bett liegen müssen, in das Loch geschlüpft und hatte das Hindernis nach und nach abgetragen. Den Staub und die kleinen Mörtelbröckchen hatte sie in die Latrine gekippt und die größeren Steine in ihrer Kleidung nach draußen geschmuggelt.
Als sie jetzt in das Loch hinaufstieg, gratulierte sich Imi abermals zu ihrer Entdeckung. Nach der Entfernung des Hindernisses war sie weitergekrochen und hatte eine kleine Tür entdeckt, die auf der Tunnelseite verriegelt gewesen war. Als sie die Tür geöffnet hatte, war sie in einen kleinen Schrank gelangt. Dahinter lag ein mit Rohren gesäumter Raum.
Sie hatte sofort erraten, worum es sich handelte. Ihr Vater hatte ihr erzählt, dass er eine Möglichkeit habe, mit Menschen in anderen Teilen der Stadt zu sprechen, und er hatte ihr von den Röhren erzählt, die Geräusche weitertrugen.
Er hatte keine Ahnung, dass sie wusste, wo sich dieser Raum befand, oder dass sie ihn ebenfalls benutzte.
Es war ein wunderbarer Spaß, hierherzukommen. Bevor sie spätabends durch den Tunnel kroch, versicherte sie sich immer, dass ihr Vater andernorts zu tun hatte. Dann legte sie den Kopf an die ohrenförmigen Öffnungen in den Rohren und lauschte Gesprächen zwischen wichtigen Persönlichkeiten, Streitigkeiten unter den Dienern und dem Austausch von Zärtlichkeiten zwischen heimlichen Liebenden. Sie kannte alle Gerüchte der Stadt – und auch die Wahrheit.
Als sie jetzt die hölzerne Tür erreichte, lauschte Imi auf Stimmen, bevor sie hindurchtrat. Dann eilte sie zu dem Rohr, von dem sie wusste, dass es in den königlichen Audienzsaal führte, und drückte ihr Ohr an die Öffnung.
»...die Vorteile des Handels. Die Kunstwerke, die ich in diesem Raum sehe, und der Schmuck, den du trägst, sagen mir, dass du hier begabte Künstler hast. Diese Künstler könnten Dinge herstellen, um sie außerhalb von Borra zu verkaufen. Als Gegenleistung könntest du dich an einigen Annehmlichkeiten meines Volkes erfreuen, wie zum Beispiel an den schönen Stoffen, die in Genria hergestellt werden und die glänzen wie Sterne, oder an den leuchtend roten Feuersteinen von Toren.«