Es war sehr eng in dem Tarn, da sich sechs Frauen auf die Bänke zwängen mussten.
»Von außen sehen sie geräumiger aus«, murrte Brand. »Pass auf, wohin du deine Schuhe stellst, Stern.«
»Es stinkt wie geräucherter Ner«, jammerte Barmherzigkeit.
»Ich bezweifle, dass Rozea die Wagen neu gekauft hat.« Vogel zog die Füße zurück, und ihre Fersen schlugen gegen ein Hindernis. »Da liegt etwas unter dem Sitz.«
Emerahl spähte unter die Bank gegenüber. »Kisten. Ich glaube, einige unserer Vorräte sind hier im Wagen. Unsere Sitze stehen dichter beieinander, als es notwendig wäre. Es würde mich nicht überraschen, wenn dahinter Fächer eingebaut wären.«
»Wozu sollten diese Fächer dienen?«, fragte Flut. »Ist Rozea zu geizig, um genug Tarns zu kaufen?«
»Nein«, sagte Brand. »Ich wette, es sind Geheimfächer, in denen man einige Dinge verstecken kann, für den Fall, dass wir ausgeraubt werden.«
Die anderen verstummten und sahen sie an.
»Ein Räuber würde denken, die Vorratskarren seien alles, was wir haben«, erklärte Brand. »Wenn er hier hineinschauen würde, würde er nur uns sehen und sonst nichts.«
»Es wird uns niemand überfallen«, widersprach Stern. »Wir reisen mit der Armee.«
»Aber wir könnten hinter dem Trupp zurückfallen«, bemerkte Vogel mit gepresster Stimme. »Oder von ihm getrennt werden.«
»Das wird nicht passieren«, versicherte ihr Stern. »Rozea wird es nicht zulassen.«
Draußen erklang ein schriller Pfiff. Die Mädchen tauschten nervöse Blicke und schwiegen, bis der Tarn sich ruckartig in Bewegung setzte.
»Jetzt ist es zu spät, um unsere Meinung zu ändern«, murmelte Flut.
»Wir könnten alle rausspringen und ins Haus zurücklaufen«, schlug Barmherzigkeit halb im Scherz vor.
Emerahl schnaubte. »Rozea würde dir jemanden hinterherschicken, der dich zurückschleift. Ich dachte, außer mir seien alle ganz erpicht auf dieses wunderbare Abenteuer.«
Die anderen Mädchen zuckten die Achseln.
»Du möchtest nicht fortgehen, Jade?«, fragte Stern. »Warum nicht?«
Emerahl wandte den Blick ab. »Ich denke, Räuber werden unser geringstes Problem sein. Es sind die Soldaten, vor denen wir uns in Acht nehmen müssen. Sie werden glauben, ihr Einsatz im Kampf berechtige sie, in unser Bett zu kommen, wann immer sie wollen, und wir haben nicht genug von unseren eigenen Wachen dabei, um sie daran zu hindern. Dies wird eine unerfreuliche, schmutzige Arbeit werden.«
Barmherzigkeit verzog das Gesicht. »Lasst uns nicht länger darüber reden. Ich möchte mir lieber vormachen, dass wir in ein herrliches Abenteuer ziehen, bei dem wir große Dinge miterleben werden. Dinge, von denen ich meinen Enkelkindern erzählen kann.«
»Nur gut, dass es Großmüttern gestattet ist, die schlechten Teile auszulassen«, meinte Brand kichernd. »Und die guten auszuschmücken. Die Soldaten werden tapfer sein, die Generäle attraktiv und die Priester tugendhaft und noch attraktiver...«
Bei der Erwähnung von Priestern zog sich der Knoten in Emerahls Magen noch fester zusammen. Sie beugte sich über Fluts Schoß und hob die Türlasche an. Sie befanden sich bereits auf halbem Weg zu den Toren. Ihr Mund wurde trocken. Sie widerstand dem Drang, nach dem Formtane zu greifen. Bald.
»Hast du jemals einen Priester als Freier gehabt?«, fragte Flut Brand.
»Nicht nur einen.«
»Ich nicht. Was ist mit dir, Stern? Barmherzigkeit?«
Stern zuckte die Achseln. »Einmal. Und er war nicht attraktiv. Er war fett. Und schnell, Yranna sei gedankt.«
»Ich habe einige gehabt«, gestand Barmherzigkeit mit einem Grinsen. »Ich glaube, sie mögen mich wegen meines Namens. Dann können sie sagen, sie hätten den Abend mit Werken der Barmherzigkeit verbracht.«
Brand brach in Gelächter aus. »Rozea versteht sich eindeutig darauf, geeignete Namen auszuwählen. Was ist mit dir, Jade?«
»Mit mir?«
»Hast du jemals einen Priester als Freier gehabt?« Emerahl schüttelte den Kopf. »Noch nie.« »Dann wirst du das auf dieser Reise vielleicht nachholen können.« »Vielleicht.«
Brand wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. »Sie sind angeblich ziemlich gut im Bett.«
»Ungefähr so gut wie jede Rasse oder jeder Kult, dem man genau das nachsagt, vermute ich.«
»Du bist viel zu ernst, Jade – und warum schaust du ständig nach draußen?«
Emerahl ließ die Türlasche sinken. Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Vom Reisen wird mir immer übel.«
Stern stöhnte wenig mitfühlend auf. »Du wirst dich doch nicht etwa übergeben, oder?«
Emerahl schnitt eine Grimasse. »Wenn ich es tue, werde ich mich auf jeden Fall in deine Richtung beugen.«
»Du bist verrückt. Hier.« Flut stand auf. »Setz dich ans Fenster. Wenn dir übel wird, kannst du die Lasche öffnen und etwas frische Luft einlassen.«
»Vielen Dank.« Emerahl brachte ein Lächeln zustande und schob sich über die Bank. Flut nahm in der Mitte Platz und tätschelte mitleidig Emerahls Knie.
Als Emerahl das nächste Mal hinausschaute, schätzte sie, dass sie nicht mehr weit von den Stadttoren entfernt waren. Sie ließ die Lasche sinken und wandte sich den anderen Frauen zu.
»Ich habe etwas mitgebracht«, erklärte sie. »Etwas gegen die Übelkeit. Es wäre nicht richtig, wenn ich es nicht mit euch teilen würde.«
Brand lächelte wissend. »Das Formtane?«
»Formtane!«, rief Stern. »Wo hast du das her?«
»Ich habe auf dem Weg zu meiner Familie einen kleinen Ausflug auf den Markt gemacht«, erzählte Brand ihnen.
Emerahl streckte den linken Arm aus und zog das erste Bröckchen Formtane aus dem Saum ihres Ärmels. Sie schob es sich in den Mund und schluckte, dann förderte sie den nächsten kleinen Klumpen zutage.
»Also, wer möchte etwas haben?«
Die anderen beugten sich eifrig vor.
»Ich habe es noch nie probiert«, gestand Flut.
»Es ist wunderbar«, flüsterte Barmherzigkeit. »Die Zeit scheint plötzlich langsamer zu vergehen, und man fühlt sich ganz leicht, als würde man schweben.« Sie nahm ihr Bröckchen Formtane entgegen. »Vielen Dank, Jade.«
Eine Woge des Schwindels schlug über Emerahl zusammen. Sie pflückte ein weiteres Bröckchen aus ihrem Ärmel und gab es Brand. Dann brauchte sie ihre ganze Konzentration, um drei weitere Bröckchen für Flut, Vogel und Stern aus ihrem Ärmel zu holen. Anschließend ließ sie sich gegen die Rückenlehne der Sitzbank sinken.
»Hast du noch mehr?«, fragte Stern träumerisch.
Emerahl, die ihrer Stimme nicht mehr traute, schüttelte nur den Kopf. Sie erwog, nachzusehen, wie nahe sie dem Tor inzwischen waren, konnte sich aber nicht dazu durchringen.
Die anderen Frauen lächelten selig. Wie töricht sie aussahen. Emerahl spürte, wie ein Lachen in ihr aufstieg. »Was ist so komisch?« »Ihr seht alle so glücklich aus«, lallte sie. Flut kicherte, dann brachen sie alle in träges, atemloses Gelächter aus.
»Fühlst du dich jetzt besser, Jade?«, fragte Brand. Emerahl lachte abermals, dann beugte sie sich vor. Sie schwankte, und ihr Blick trübte sich. »Meins war war zu viel...«
Mit diesen Worten entglitt sie in eine wohlige, angenehme Schwärze.
Die Zeit blieb stehen, aber Emerahl war zu träge, um sich dafür zu interessieren. Sie überließ sich mit allen Sinnen der sicheren, warmen Dunkelheit. Aus der Dunkelheit heraus erschien ein Turm. Der Anblick verstörte sie. Ein Anflug von Ärger stieg in ihr auf.
O nein. Nicht schon wieder.
Der Turm erstreckte sich in unmögliche Höhen und riss sogar die Wolken auf. Sie konnte nicht aufhören, ihn anzustarren. Er fesselte ihre gesamte Aufmerksamkeit.
Wo ist dieser Ort?
Plötzlich war der Turm fort. Emerahl senkte den Blick. Ein anderes Gebäude stand an seiner Stelle. Das alte Traumweberhaus in Jarime. Das Haus, unter dem Mirar begraben worden war, nachdem Juran, Hohepriester des Zirkels der Götter, ihn getötet hatte.