Er schaute zur Zeltlasche hinüber. Jayim hatte sie sorgfältig verschlossen, wie er bemerkte. Es gab keine Ritzen.
»Keine Sorge«, murmelte Auraya. »Niemand wird etwas hören. Dafür habe ich bereits gesorgt.«
Als sie ihn zum Bett hinüberzog, konnte sich Leiard der Ironie der Situation nicht ganz entziehen. Was mochten die Götter davon halten, dass eine ihrer bevorzugten Priesterinnen ihre Gaben benutzte, um ihre heimliche Affäre mit einem Traumweber zu verbergen?
Dann wurde er plötzlich wieder ernst. Es bestand kaum eine Chance, dass sie nicht bereits davon wussten. Wenn sie ihre Beziehung missbilligten, hätten sie schon vor langer Zeit etwas dagegen unternommen.
Dann küsste Auraya ihn, und alle Gedanken an die Götter lösten sich in nichts auf.
35
Emerahl zog den Pelzkragen ihres Kapas fester um sich. Sie wandte sich dem Eingang des Zeltes zu, stieß einen tiefen Seufzer aus, drückte dann den Rücken durch und ging hinaus.
Sofort spürte sie die Blicke der Männer. Es waren die Soldaten, die die Aufgabe hatten, über sie zu wachen. Angeblich sollten sie ihre Beschützer sein, aber in Wirklichkeit waren sie eher Gefängniswärter. Seit dem Tag, an dem sie mit den anderen Prostituierten aus Porin aufgebrochen war, hatte sie die höfliche Aufmerksamkeit dieser Männer ertragen.
Als Rozea von Emerahls »Unfall« mit dem Formtane erfahren hatte, hatte sie erklärt, dass Emerahl ihre neue Favoritin sei. Auf diese Weise hatte sie weiteren »törichten und selbstzerstörerischen Angewohnheiten« vorbeugen wollen. Seither reiste Emerahl in Rozeas Tarn und bekam von allem nur das Beste – einschließlich ihrer persönlichen Wachposten.
Die anderen Huren standen etwas weiter entfernt. Seit ihrem Aufbruch aus Porin hatte Emerahl kaum mit ihnen gesprochen. Aus kurzen Gesprächen mit Flut wusste sie, dass die Frauen glaubten, sie habe ihren kleinen »Unfall« mit dem Formtane geplant, um Rozea dazu zu bewegen, ihr eine höhere Position zu geben.
Es machte die Sache nicht besser, dass Rozea Emerahl nicht erlaubte, Flut oder Brand zu besuchen. Sie wusste, dass Brand das Formtane für Emerahl gekauft hatte, und sie war sich nicht sicher, ob Emerahls Freundinnen ihr nicht auch andere Dinge zustecken würden.
Einen zweifelhaften Vorteil hatte ihre neue Position. Ihre Kunden waren stets die reichsten Adligen der Armee. Die wenigen Priester, die die Zelte des Bordells besuchten, konnten sich die Dienste der Favoritin nicht leisten. Zumindest bisher nicht. Emerahl wünschte beinahe, sie hätte Rozea nicht gesagt, dass sie diese Reise nicht machen wollte. Rozea befürchtete jetzt, dass die Angst ihrer Favoritin vor dem Krieg die Oberhand über ihre Vernunft gewinnen könnte, daher wurden die Zelte jeden Abend so aufgestellt, dass man Emerahl aus allen Richtungen beobachten konnte. Man gestattete ihr keine scharfen Werkzeuge, und ihre Kunden wurden gebeten, alle Waffen abzulegen, bevor sie zu ihr gingen. Rozea liebte fantastische Abenteuergeschichten und wusste, dass ein gestohlenes Messer und ein lautloser Schnitt in eine unbewachte Zeltwand den Heldinnen vieler Geschichten die Möglichkeit gegeben hatte, ihren Wärtern zu entfliehen.
Es war jedoch keine dieser Vorsichtsmaßnahmen, die Emerahl davon abhielt, fortzugehen.
Es sind weder die Wachen noch die Zeltwände, dachte sie, während einige Diener geschickt die Zeltpfosten aus dem Boden zogen und das ganze Gebilde in sich zusammenbrach. Es sind die Nachbarn gewesen.
Sie betrachtete das leere Feld, auf dem sie gelagert hatten. Die Überreste des bereits geernteten Getreides waren zertrampelt worden – zuerst von der Armee und jetzt von Rozeas Karawane. Ein Stich der Erregung durchzuckte sie. Bisher war es ihnen gelungen, mit der torenischen Armee Schritt zu halten. Tagsüber verschwanden die Truppen häufig in der Ferne, aber am Abend holte die Bordellkarawane sie immer wieder ein.
Nur am letzten Abend war es anders gewesen. Eine kleine Gruppe wohlhabender Freier war zurückgeritten, um sie aufzusuchen, und hatte sie in den frühen Morgenstunden wieder verlassen. Emerahls Freier, ein Vetter zweiten Grades des Königs, hatte ihr erzählt, dass die Armee die Männer jetzt so schnell wie möglich vorantrieb, damit sie rechtzeitig zur Schlacht zu der zirklischen Armee stoßen konnten.
Bisher hatte das Bordell jeden Abend auf dem gleichen Gelände gelagert wie die Truppen. Jeden Abend gingen Priester zwischen den Soldaten umher, sprachen ihnen Mut zu und sorgten dafür, dass sie in ihrem Eifer nicht erlahmten. Das war es, was Emerahl daran gehindert hatte, fortzugehen. Jede Auseinandersetzung zwischen ihr und ihren Wächtern würde unweigerlich Aufmerksamkeit erregen. Selbst wenn es ihr gelang, sich unbemerkt davonzustehlen, würde es sich schnell herumsprechen, dass Rozeas Favoritin davongelaufen war. Es war nicht schwer zu erraten, was passieren würde: In den Köpfen vieler Soldaten würde sich sofort der Gedanke an ein kostenloses Schäferstündchen mit einer begehrten Schönheit festsetzen – und die Aussicht auf eine Belohnung, wenn sie sie zurückbrachten. Sie könnte sich mühelos verteidigen, aber auch damit würde sie gerade die Aufmerksamkeit erregen, die sie unbedingt vermeiden wollte.
Jetzt, da die Armee schneller marschierte, bestand diese Gefahr nicht länger. Schon bald würde das Bordell zu weit zurückliegen, als dass die Adligen es bei Nacht aufsuchen konnten. Sie brauchte lediglich eine Ablenkung für ihre Wachen zu arrangieren und davonzuschlüpfen, und da sie keinen Kunden mehr die ganze Nacht in ihrem Bett haben würde, würde ihre Abwesenheit wahrscheinlich bis zum Morgen unbemerkt bleiben.
»Jade.«
Emerahl blickte auf. Rozea, deren hohe Stiefel schlammverkrustet waren, kam auf sie zu. Das Leben auf Reisen gefiel der Frau offensichtlich, und sie verbrachte jeden Morgen damit, im Lager umherzustapfen und Befehle zu erteilen.
»Ja?«, erwiderte Emerahl. »Wie geht es dir?«
Emerahl zuckte die Achseln. »Recht gut, danke.« »Dann komm mit.«
Rozea begleitete sie zu dem Tarn, der ihren Zug anführte, und schob sie hinein. Eine Dienerin reichte ihnen Kelche mit gewärmtem Gewürzwasser. Emerahl leerte ihren Kelch mit wenigen Zügen, weil sie die Absicht hatte, sich bald niederzulegen und zu schlafen. Sie war heute nicht in Stimmung für ein Gespräch mit Rozea, und wenn sich ihr in der Nacht die Gelegenheit zur Flucht bot, wollte sie so ausgeruht sein wie nur möglich.
»Du bist heute Morgen so still«, bemerkte Rozea. »Es ist wohl noch zu früh für dich?«
Emerahl nickte.
»Wir müssen zeitig aufbrechen, wenn wir heute Abend zu der Armee aufschließen wollen.«
»Glaubst du, dass wir es schaffen werden?«
Rozea schürzte die Lippen. »Vielleicht. Wenn nicht, werden wir uns zumindest vor Kremos Karawane setzen.«
Kremo war einer von Rozeas Rivalen. Die Karawane des Mannes war größer als ihre, und er bediente alle Soldaten bis auf die ärmsten unter ihnen, die sich nur die allein reisenden, kränklichen Huren leisten konnten, die wie Aasfliegen hinter der Armee herzockelten.
»Dann sollte ich besser zusehen, dass ich ein wenig Schlaf finde«, sagte Emerahl. Rozea nickte. Emerahl legte sich auf die Sitzbank und schlief sofort ein. Nur als der Tarn sich ruckartig in Bewegung setzte, wachte sie noch einmal kurz auf. Als sie das nächste Mal wieder erwachte, war der Tarn stehen geblieben. Sie blickte auf und stellte fest, dass Rozea fort war.
Nach einer Weile nickte sie wieder ein, bis laute Männer stimmen sie aufschreckten. Irgendwo hinter dem Tarn erklangen Schreie.
Emerahl fuhr hoch und riss die Türlasche des Tarns auf. Die Straße war von Bäumen gesäumt, und Männer, die sie nicht kannte, kamen durch die Bäume auf die Karawane zugestürmt. Irgendwo weiter vorn hörte Emerahl Rozea den Wachen Befehle zubrüllen, doch die Männer waren den Angreifern bereits entgegengerannt. Emerahl stellte fest, dass sie die Rüstung torenischer Soldaten trugen und die gleichen Schwerter und Speere schwangen wie die Truppen dieses Landes. Einen der Männer besah sie sich genauer. Seine Gefühle waren eine Mischung aus Habgier, Verlangen und Jubel darüber, endlich frei von Befehlen und Einschränkungen zu sein.