Deserteure, vermutete Emerahl. Wahrscheinlich sind sie zu Dieben und Gesetzlosen geworden.
Mit hämmerndem Herzen blickte sie sich um. Die Anzahl der Angreifer schien nicht allzu groß zu sein, aber es war durchaus möglich, dass sich weitere Männer zwischen den Bäumen versteckten. Dann stach ihr der herabgestürzte Baum ins Auge, der vor Rozeas Tarn lag. Jemand hatte den Stamm mit einem Beil bearbeitet; dies war kein natürliches Hindernis.
Plötzlich trat ein Fremder vor sie hin. Erschrocken zog sie sich in den Tarn zurück. Der Mann grinste sie an und riss die Lasche beiseite. Als er in den Tarn zu steigen versuchte, fasste Emerahl sich rasch. Sie zog Magie in sich hinein, dann zögerte sie. Es war das Beste, es wie einen körperlichen Schlag aussehen zu lassen. Sie schleuderte ihm die geballte Wucht eines Zaubers ins Gesicht.
Sein Kopf wurde zurückgerissen, und er keuchte überrascht auf. Blut rann aus seiner Nase. Der Mann stieß ein wütendes Knurren aus und hievte sich in den Tarn.
Zäher Bastard, dachte sie. Und dumm obendrein. Sie sammelte abermals Magie und richtete sie direkt auf seine Brust. Der Schlag katapultierte ihn rückwärts aus dem Tarn hinaus. Als er zu Boden fiel, schlug sein Kopf mit einem hörbaren Krachen gegen einen Baumstamm.
Emerahl schob sich zur Tür hinüber. Als eine weitere Gestalt in Sicht kam, zuckte sie zusammen, entspannte sich dann jedoch, als sie das Gesicht eines der Wachmänner des Bordells erkannte. Er bückte sich, dann hörte sie ein dumpfes Geräusch.
»Er wird dich nicht noch einmal belästigen«, sagte der Wachmann wohlgelaunt.
»Vielen Dank«, erwiderte sie trocken.
»Jetzt sieh zu, dass niemand dich bemerkt. Kiro und Stiilo brauchen ein wenig Hilfe.«
Die Schreie der Huren hatten sich inzwischen in ein entsetztes Kreischen verwandelt. Als der Wachmann davoneilte, ignorierte Emerahl seinen Befehl und spähte zur Tür hinaus.
Drei der Deserteure standen mit dem Rücken vor einem der Tarns. Sie kämpften gegen zwei Wachleute – drei, als Emerahls Retter sich zu seinen Kameraden gesellte. Die Mädchen in dem Wagen klangen hysterisch. Im nächsten Moment landete ein magerer, schwindsüchtig aussehender Angreifer einen Treffer – er bewegte sich schneller, als man es ihm zugetraut hätte -, und der Wachposten, der gegen ihn gekämpft hatte, sackte zu Boden.
Der magere Mann blickte zu seinen beiden Kameraden hinüber. Statt ihnen im Kampf beizustehen, trat er jedoch hinter sie, fuhr herum und schlug auf die Plane des Tarns ein. Der Rahmen des Aufbaus barst, und die Plane fiel in sich zusammen. Die Mädchen begannen von neuem zu schreien.
Gleichzeitig stürzte einer der beiden anderen Deserteure zu Boden. Der magere Mann griff in den Tarn. Emerahl hielt den Atem an, dann krampfte sich ihr Magen zusammen, als ein schlanker Frauenarm in Sicht kam. Der Mann zerrte daran, und Stern fiel aus dem Wagen.
Er deutete mit der Schwertspitze auf ihren Bauch. »Tretet zurück, oder sie stirbt!«
Die Kämpfer hielten inne. Der letzte Deserteur blutete stark aus einer Verletzung am Bein.
»So ist es richtig. Und jetzt gebt uns euer Geld.« Die beiden Wachen tauschten einen Blick. »Gebt uns euer Geld!«
Emerahl schüttelte traurig den Kopf. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, wie dies hier enden kann. Wenn die Wachen seine Forderungen missachten, wird er Stern töten. Wenn sie nachgeben, wird er sie trotzdem mitnehmen, als Sicherheit für den Fall, dass die Wachen ihm folgen, um das Geld des Bordells zurückzuholen.Höchstwahrscheinlich wird er Stern töten, sobald er das Gefühl hat, den Männern entkommen zu sein.
Es sei denn, ich greife ein. Aber das kann ich nicht. Nicht ohne zu offenbaren, dass ich über mächtige Gaben verfüge.
Aber würde sie damit wirklich ein Geheimnis verraten? Rozea wusste bereits, dass ihre Favoritin über einige Gaben verfügte. Wenn Emerahl lediglich elementare Magie benutzte – zum Beispiel nur einen schwachen Schlag, um dem Mann das Schwert aus der Hand zu reißen -, würden ihre Zuschauer schlimmstenfalls ein wenig überrascht sein. Sie würde einen Augenblick abpassen müssen, in dem der Deserteur abgelenkt war. Bei dem leisesten Hinweis auf einen magischen Angriff würde er Stern sein Schwert in den Leib rammen.
Emerahl zog Magie in sich hinein und hielt sie bereit.
»Du wirst nicht eine Münze von uns bekommen, du feiger Haufen Arem-Dung.« Rozea trat zwischen zwei Tarns hervor.
Der verletzte Deserteur wählte diesen Moment, um zusammenzubrechen. Der Mann, der Stern bedrohte, gönnte seinem Gefährten nicht einen Blick. Er drückte Stern sein Schwert noch ein wenig fester in den Bauch. Das Mädchen schrie auf. »Einen Schritt weiter, und ich werde sie töten.«
»Nur zu, Deserteur«, rief Rozea trotzig. »Ich habe jede Menge Mädchen wie sie.« Sie nickte den Wachen zu. »Tötet ihn.«
Die Miene der Wachsoldaten verhärtete sich. Als sie die Schwerter hoben, sandte Emerahl ihren Zauber aus, aber es war zu spät; der Deserteur hatte Stern sein Schwert bereits in den Bauch gestoßen.
Stern schrie gequält auf. Emerahls Zauber riss dem Mann im selben Augenblick das Schwert aus der Hand, in dem sich die Klinge eines der Wachsoldaten in seinen Hals bohrte. Stern schrie abermals und presste sich die Hände auf den Leib. Emerahl stellte entsetzt fest, dass der Zauber, mit dem sie das Schwert aus dem Körper des Mädchens herausgerissen hatte, noch größeren Schaden angerichtet hatte. Blut quoll aus der Wunde.
Mit einem heftigen Fluch sprang Emerahl aus dem Tarn. Die Wachen starrten sie an, als sie an ihnen vorbeieilte und neben Stern niederkniete. Sie hörte, dass Rozea mit scharfer Stimme ihren Namen rief, kümmerte sich jedoch nicht weiter darum.
Emerahl drückte mit einer Hand fest auf die Wunde des verletzten Mädchens. Stern schrie auf.
»Ich weiß, es tut weh«, sagte Emerahl leise. »Wir müssen verhindern, dass das Blut deinem Körper entweicht.« Mit Druck allein ließ sich die Blutung jedoch nicht eindämmen. Sie zog Magie in sich hinein und formte sie zu einer Barriere unter ihren Händen.
Dann sah sie zu den Wachen auf. »Sucht nach irgendetwas, auf dem wir sie in meinen Tarn tragen können.«
»Aber sie...«
»Tut es einfach«, blaffte sie die Männer an.
Sie eilten davon. Emerahl blickte sich um. Rozea stand noch immer einige Schritte entfernt.
»Hast du eine Tasche mit Heilmitteln und Kräutern dabei?«, fragte Emerahl. Die Bordellwirtin zuckte die Achseln. »Ja, aber es hat keinen Sinn, sie zu verschwenden. Sie wird ohnehin nicht überleben.«
Kaltherziges Miststück. Emerahl biss sich auf die Zunge. »Sei dir da nicht so sicher. Ich habe schon schlimmere Verletzungen gesehen, die von Traumwebern geheilt wurden.«
»Ach ja?« Rozea zog die Augenbrauen hoch. »Du wirst mit jedem Tag interessanter, Jade. Wann hatte ein armes Mädchen wie du, das von zu Hause weggelaufen ist, die Gelegenheit, Traumweber bei der Arbeit zu beobachten? Was bringt dich auf die Idee, du könntest tun, wozu sie eine jahrelange Ausbildung brauchen?«
Emerahl sah Rozea fest in die Augen. »Vielleicht werde ich es dir eines Tages erzählen -falls du mir die Tasche und etwas Wasser bringst. Und Verbandszeug. Viel Verbandszeug.«
Rozea rief nach den Dienern. Die Türlasche des letzten Tarns wurde geöffnet, und ängstliche Gesichter kamen in Sicht, dann erschien ein Diener und eilte auf Rozea zu. Die Wachen kehrten mit einem schmalen Brett zurück. Emerahl drehte Stern auf die Seite. Das Mädchen gab keinen Laut von sich. Sie war bewusstlos geworden. Die Wachen schoben das Brett unter ihren Körper, dann trugen sie die primitive Bahre zu Rozeas Tarn hinüber.
Rozea folgte ihnen. »Ihr werdet sie nicht in den Wagen legen. Du kannst sie genauso gut hier draußen behandeln.«