»Also, wie mache ich mich?«, fragte Auraya.
Dyara sah sie an und lächelte grimmig. »Recht gut. Du hast eine natürliche Begabung für Magie, aber das ist keine Überraschung. Anderenfalls hätten die Götter dich nicht auserwählt.«
»Ich dachte, es läge an meinem Charme.«
Zu Aurayas Überraschung lachte Dyara leise. »Ich bin davon überzeugt, dass sie dich auch deshalb gewählt haben. Aber mit Charme allein wirst du diesen Krieg nicht überleben, Auraya – und ich weiß, dass dir das klar ist.«
Auraya nickte. »Wir haben fast alles noch einmal durchgenommen, was ich seit meiner Erwählung gelernt habe. Was werden wir morgen machen?«
Dyara runzelte die Stirn. »Ich habe über verschiedene Möglichkeiten nachgedacht, wie du deine Fähigkeit zu fliegen zu deinem Vorteil nutzen könntest. Wenn du eine große Menge Magie in dich hineinziehst, verringerst du, wie du weißt, die Magie in der Welt unmittelbar um dich herum. Frische Magie fließt herein, um zu ersetzen, was gebraucht wurde, aber dieser Prozess ist zu langsam, wenn du sehr schnell weitere Macht benötigst. Um diesen Umstand auszugleichen, musst du Magie aus einiger Entfernung von dir holen, was mehr Anstrengung kostet, oder du musst dich zu einem Ort bewegen, an dem noch größere Vorräte an Magie zu finden sind.«
»Und ich muss es vermeiden, dort hinzugehen, wo mein Feind gestanden hat.«
»Ja. Im Gegensatz zu uns bist du nicht darauf beschränkt, dich über Land bewegen zu müssen. Dir steht auch der gesamte Himmel zur Verfügung. Deine Magiequellen werden immer frisch sein, solange du in der Luft bleibst und dich bewegst.«
Ein leiser Schauer der Erregung überlief Auraya. »Ich verstehe. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.«
»Das Problem ist, dass Juran dich an unserer Seite haben will, da es auf diese Weise einfacher sein wird...« Auraya? Beobachtest du uns gerade?
Auraya hielt inne. Der Gedankenruf war schwach und zögerlich, aber klar genug, um zu erkennen, von wem er kam. Tireel, der Botschafter der Siyee, der nach Jarime gekommen war, hatte sich freiwillig erboten, die Späher über die Berge zu führen. Sie hatte ihm ihren Verbindungsring gegeben, damit er sie an seinen Gedanken und Sinneseindrücken teilhaben lassen konnte, sobald sie angekommen waren.
Tireel. Wo bist du?
Auf der anderen Seite der Berge. Wir haben die Pentadrianer gefunden. Sie sind erheblich näher, als du gesagt hast.
Sie konnte Erregung und Angst bei ihm spüren. Ohne lange zu zögern, griff sie mit ihrer Magie nach Dyara, Juran, Mairae und Rian, erzählte ihnen, was geschehen war, und leitete Tireels Botschaften an sie weiter.
Wie nah sind sie? Zeig mir, was du siehst.
Er brauchte einige Versuche, bevor er in der Lage war, ein klares Bild von seiner Umgebung zu übermitteln. Es war ein enges, von hoch oben betrachtetes Tal, durch das sich zwei Flüsse schlängelten, einer blau, einer schwarz. Dann wurde Auraya klar, dass der schwarze Fluss ein Strom von Menschen war, nicht von Wasser.
Die pentadrianische Armee.
Der Anblick war zwar keine Überraschung, aber war dennoch ein Schock. Bis jetzt hatte sie lediglich durch Berichte vom Feind gehört, und sie war ihm nur in der Gestalt eines einzelnen schwarzen Zauberers begegnet. Als sie jetzt diese endlose Kolonne sah, die sich stetig auf den Pass und auf ihre Heimat zubewegte, wurde die Gefahr einer Invasion plötzlich real und beängstigend.
Kannst du näher herankommen?, fragte Juran.
Ich werde einige Kreise ziehen und mich, wenn ich die Sonne im Rücken habe, langsam hinabsinken lassen.
Tireel gab einigen der anderen Siyee den Auftrag, die Nachbartäler zu erkunden, dann wies er die Übrigen an, sich außer Sichtweite der Armee zu begeben. Falls irgendwelche Pentadrianer zufällig zum Himmel aufschauten, würden sie glauben, einen großen Raubvogel zu sehen. Raubvögel traten jedoch nicht in Schwärmen auf, sondern allein. Mehrere große Vögel würden Aufmerksamkeit erregen, und es würde nicht lange dauern, bis jemand begriff, dass es sich möglicherweise nicht um Vögel handelte, sondern um Menschen.
Als er sich davon überzeugt hatte, dass seine Anweisungen ausgeführt wurden, ließ Tireel sich langsam hinabsinken, wobei er die Bewegungsabläufe von Raubvögeln nachahmte. Das Bild der pentadrianischen Armee vervollständigte sich. Auraya bemerkte, dass die Kolonne in fünf Abteilungen unterteilt war. Eine jede wurde von einem einzelnen Reiter angeführt, während die Vorratswagen am Ende des Zuges fuhren.
Sind diese Anführer die fünf Zauberer und Zauberinnen, von denen man uns erzählt hat?, wollte Juran wissen.
Ich werde versuchen, näher heranzufliegen und einen von ihnen genauer in Augenschein zu nehmen, erbot sich Tireel.
Tireel glitt tiefer hinab, bis Auraya sehen konnte, dass einer der Anführer eine Frau war. Auf dem Arm der Frau hockte ein riesiger schwarzer Vogel. Im Gegensatz zu den Jagdvögeln des genrianischen Adels trug dieser hier keine Haube. Er drehte sich hin und her und betrachtete die Bäume zu beiden Seiten der Straße. Dann legte er plötzlich den Kopf schräg und breitete die Flügel aus. Seine schrillen Schreie hallten durch das Tal.
Die Frau hob ruckartig den Kopf und streckte den Arm aus. Der schwarze Vogel schwang sich unter kräftigem Flügelschlagen in die Luft.
Zieh dich zurück, drängte Auraya.
Tireel entfernte sich kreisend. Als er sich umdrehte, erblickte er mehrere weitere Vögel, die sich zwischen den Reihen der Pentadrianer erhoben hatten. Die Angst verlieh ihm zusätzliche Kraft.
Glaubst du, sie hat ihn als das erkannt, was er ist?, fragte Mairae.
Wenn sie die einzige Pentadrianerin mit Vögeln ist, dann ist sie wahrscheinlich diejenige, die auch in Si war, antwortete Auraya. Das heißt, sie hat schon früher Siyee gesehen.
Wir sollten davon ausgehen, dass unsere Hoffnungen, sie zu überraschen, damit zunichte gemacht worden sind. Jurans Gedanke war so leise, dass nur die anderen Weißen ihn hören konnten.
Ich bezweifle ohnehin, dass wir sie überrascht hätten, erwiderte Dyara. Diese Frau hat Auraya bei den Siyee gesehen. Es wird ihr klar sein, dass die Siyee sich uns möglicherweise angeschlossen haben.
Dann sind das also die schwarzen Vögel, die...?
Plötzlich überlagerten Schock und Schmerz Mairaes Frage. Verworrene Gedanken und Gefühle folgten. Tireel konnte sich nur benommen fragen, was geschehen war. Sein Kopf und seine Schultern waren mit einem Mal wund und zerschunden, und er hatte das Gefühl, als sei er gegen einen Felsen geflogen, obwohl er sich noch immer in der Luft befand. Er stürzte auch nicht, sondern lag auf irgendetwas. Als er hinabblickte, sah er nichts als den Boden unter ihm.
Die pentadrianische Armee hatte Halt gemacht. Hunderte von Augenpaaren beobachteten ihn. Die Zauberin hatte den Arm in seine Richtung erhoben. Schwarze Vögel kreisten unter ihm.
Auraya spürte, wie ihr Magen sich zusammenschnürte.
Die Zauberin hat ihn gefangen. Dyara war entsetzt. Das ist nicht gut, murmelte Juran.
Die Barriere, die Tireel festgehalten hatte, verschwand, und er fiel. Mit ausgebreiteten Flügeln versuchte er, seinen Sturz zu bremsen, was ihm jedoch erst gelang, als er die Vögel erreichte.
Sie schössen auf ihn zu und hackten mit den Schnäbeln auf ihn ein. Er zog instinktiv die Arme an den Körper, um seine Flügel zu schützen, dann fiel er wie ein Stein zu Boden. Im nächsten Augenblick wurde ihm klar, dass dies vielleicht eine Möglichkeit war, ihnen zu entkommen.
Hoffnung stieg in Auraya auf.
Die Vögel folgten Tireel, während der Boden immer näher kam. Er breitete die Arme wieder aus.
Sofort stießen die Vögel auf ihn herab. Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte er gegen den Schmerz und widerstand dem Drang, sich zu schützen. Der Boden war jetzt nicht mehr allzu weit entfernt.