Eine leichte Kränkung stieg in Auraya auf. Ein Teil von ihm wollte sie nicht. Das entspricht nicht ganz der Wahrheit, sagte sie sich. Diese Netzerinnerungen stammen von einem Mann, der die Götter gehasst und gefürchtet hat, einem Mann, den Juran auf Geheiß der Götter getötet hat. Natürlich entfache ich in seinem Geist ein Echo von Angst.
»Ich bin nicht seiner Meinung«, sagte Leiard.
»Dann streitest du dich also mit ihm?«
Er sah sie überrascht an. »Ja. Aber... nicht, wenn du hier bist.«
Sie lächelte erleichtert. »Das heißt, ich tue dir gut.« Seine Mundwinkel zuckten. »Ja.«
Dennoch spürte sie sein Zögern. Sie sah genauer hin und verstand. Es würde ihm Frieden schenken, dieser anderen Persönlichkeit nachzugeben. Manchmal war es ausgesprochen verführerisch. Sie setzte sich und schlang die Arme um ihn.
»Dann werden wir gemeinsam gegen ihn kämpfen. Ich werde dir helfen, wo ich nur kann. Wenn der Krieg vorüber ist«, fügte sie hinzu. »Kannst du so lange warten?«
Er fuhr mit den Fingern durch ihr Haar. »Ich würde Jahrhunderte auf einen einzigen Augenblick mit dir warten.«
Sie grinste. »Du wirst schon wieder so romantisch. Du wirst nicht Jahrhunderte warten müssen, sondern nur einen Tag. Ich werde morgen Abend wieder hier sein.«
Sie beugte sich vor und küsste ihn. Seine Lippen waren warm. Angenehme Erinnerungen erwachten. Sie wollte ihn berühren, aber sie widerstand diesem Verlangen. Stattdessen löste sie sich von ihm und stand auf.
»Du solltest dich besser anziehen und mich hinausbegleiten.«
Er spitzte enttäuscht die Lippen, dann lächelte er und streifte die Decken ab. Sie beobachtete ihn, während er sich ankleidete, eine Prozedur, die ebenso faszinierend wie ernüchternd war. Als legte er zusammen mit den Kleidern eine Identität an. Als er fertig war, geleitete er sie wie ein aufmerksamer Gastgeber zum Eingang.
»Es war mir eine Freude, dich wiederzusehen, Auraya von den Weißen«, sagte er förmlich.
Sie nickte. »Wie immer, hoffe ich. Richte Traumweberin Arleej meine Grüße aus.«
»Das werde ich tun.«
Er hielt die Zeltlasche auf, und sie trat in die Dunkelheit des Lagers hinaus. Sie blickte zum Himmel auf und konzentrierte sich auf die Welt um sie herum. Es war inzwischen so einfach. Sie zog Magie in sich hinein und bewegte sich aufwärts.
Als sie höher stieg, sah sie in der Ferne Lichter. Das Armeelager.
Bildete sie sich das nur ein, oder waren da mehr Lichter als gewöhnlich? Es dauerte nicht lange, bis ihr Verdacht bestätigt wurde. Sie konnte etliche Reihen von Fackeln erkennen, die sich zwischen den Zelten hindurchbewegten.
Neuankömmlinge. Das muss die torenische Armee sein.
Als sie näher kam, sah sie vier bleiche Gestalten vor dem Zelt des Kriegsrats stehen. Eine kleine Menschenmenge hatte sich um sie herum versammelt, Adlige oder andere wichtige Persönlichkeiten, wie sie vermutete. Eine der Gestalten stand einige Schritte von den übrigen entfernt.
Berro. Der torenische König. Warum hat Juran mich nicht sofort von seiner Ankunft verständigt?
Einen Moment lang schwebte sie über der Versammlung. Die Stimme des Königs wehte zu ihr empor. Da sie es für unhöflich gehalten hätte, ihn zu unterbrechen, suchte sie in Gedanken die Verbindung zu Juran.
Juran? Soll ich zu euch stoßen?
Er machte eine schwache, überraschte Bewegung, dann sah er zum Himmel auf.
Ja, erwiderte er. Wenn ich dir ein Zeichen gehe.
Sie hörte ihn etwas sagen, dann winkte er sie zu sich heran. Sie ließ sich neben Mairae zu Boden sinken.
Der König musterte sie erstaunt. Dann schaute er nach oben, als erwarte er, festzustellen, dass sie von irgendeinem Gebäude gesprungen war.
»Auraya«, sagte Juran. »Ich glaube, du bist König Berro gleich nach deiner Auserwählung einmal begegnet?«
»Ja«, sagte sie. »Es ist mir eine Freude, dich wiederzusehen, mein König.«
Der König holte tief Luft und riss sich zusammen. »Die Freude ist ganz meinerseits, Auraya von den Weißen. Du hast dich mit beeindruckender Schnelligkeit und großer Sicherheit in deine neue Position eingefügt. Ich hatte bereits von deiner Gabe des Fluges gehört, konnte es aber bis jetzt nicht recht glauben.«
Sie lächelte und machte das Zeichen des Kreises. »Die Götter geben uns, was wir benötigen, um ihre Befehle auszuführen.«
Sein Blick flackerte, und sie stellte erfreut fest, dass seine Gedanken sich den Siyee zuwandten. Durch ihren Hinweis darauf, dass die Götter ihr die Gabe des Fluges geschenkt hatten, hatte sie angedeutet, dass sie das vielleicht getan hatten, um ihr eine Möglichkeit zu geben, die Siyee als Verbündete für die Weißen zu gewinnen. Hoffentlich würde Berro es sich gut überlegen, bevor er gegen die Entfernung der torenischen Siedler aus Si Einspruch erhob. Kein Monarch wagte es, den Göttern zu trotzen.
Jetzt wandte der König sich wieder Juran zu. »Ich bin mit meinen Truppen so schnell wie möglich hierhergereist, um mich euch rechtzeitig anschließen zu können. Wenn ich mit meiner Schätzung richtigliege, sind wir noch zwei Tagesreisen vom Pass entfernt. Werden wir Zeit haben, um uns auszuruhen?«
Juran runzelte die Stirn. »Ich kann euch nur die Möglichkeit anbieten, morgen nicht einen allzu weiten Marsch zurückzulegen. Aber sobald wir den Pass erreicht haben, werden deine Truppen vielleicht mehr Zeit haben, um sich zu erholen.«
»Das wird genügen.«
»Auch du bist müde«, erklärte Juran. »Es ist schon zu spät, um Kriegspläne zu erörtern. Wenn du einverstanden bist, werde ich morgen mit dir reisen, um dir alles mitzuteilen, was wir bisher besprochen und beschlossen haben.«
Berro lächelte erleichtert. »Das wäre mir sehr recht. Vielen Dank.«
Juran nickte und machte das formelle Zeichen des Kreises. »Dann werden wir uns morgen früh wiedersehen.«
Der König erwiderte die Geste und zog sich dann zusammen mit seinem Gefolge zurück. Auraya drehte sich wieder zu den anderen Weißen um. Juran wirkte erleichtert, Dyara resigniert. Rian und Mairae schienen sehr zufrieden mit der Begegnung zu sein.
»Zumindest sind sie endlich hier«, murmelte Dyara. »Die Dunweger sind auf dem Pass und stellen Fallen auf. Wenn sie zu uns stoßen, werden wir ein Heer von beträchtlicher Größe haben.«
»So ist es«, erwiderte Juran. »Und jetzt sollten wir alle ein wenig schlafen.«
Die anderen nickten. Mairae und Rian gingen davon, und Dyara machte sich auf den Weg zu dem Lager der genrianischen Armee. Juran dagegen blieb stehen, und Auraya trat auf ihn zu. Er sah sie an.
»Was ist los?«
»Es überrascht mich, dass du mich nicht gerufen hast«, erklärte sie.
»Mairae sagte, du seist zu einer Luftpatrouille aufgebrochen. Sie meinte, du hättest das Gleiche während der vergangenen Nächte getan, und ich solle dich nicht stören. Tatsächlich überrascht es mich, dass du mir nichts davon erzählt hast.«
Auraya zuckte die Achseln. »Es ist einfach meine Art, ein wenig zu fliegen, wenn ich nicht schlafen kann. Aber jetzt sollte ich wohl zu Bett gehen.« Sie hielt inne. »Und du auch.«
Er seufzte. »Ja. Du hast recht.«
Sie machte sich auf den Weg zu ihrem Zelt. Als sie hinter sich ein leises Gähnen hörte, drehte sie sich noch einmal um und sah, dass Juran sich eine Hand vor den Mund hielt. Vielleicht, dachte sie, würde er jetzt, da die Torener angekommen waren, ein wenig mehr Ruhe finden können.
Emerahl schreckte jäh aus dem Schlaf hoch. Einen Moment lang stieg Panik in ihr auf. Wurde die Karawane angegriffen? Dann erinnerte sie sich plötzlich an das Gefühl zu ersticken, und der Traum kehrte zu ihr zurück.
Der Turmtraum. Ärger flammte in ihr auf. Würde das denn niemals enden?
»Ist alles in Ordnung mit dir, Jade?«
Emerahl sah Stern an. Man hatte eine Matratze für das Mädchen in Rozeas Tarn gelegt. Es gelang Stern recht gut, so zu tun, als sei ihre Verletzung ernst gewesen, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Die Tatsache, dass sie fast wieder genesen war, bedeutete jedoch unglücklicherweise, dass es sie langweilte, den ganzen Tag liegen zu müssen. Manchmal tat Emerahl so, als ob sie schliefe, um dem Geplapper des Mädchens zu entgehen. Jetzt sah Stern Emerahl besorgt an.