Zu seiner Überraschung schüttelte Mairae abermals den Kopf. Wie konnte sie sich da so sicher sein? Sie lächelte. Es ist also jemand außerhalb der Armee, dachte er. Aber er muss in der Nahe sein, sonst könnte Auraya ihn nicht besuchen.
Sein Magen krampfte sich zusammen, als ihm eine mögliche Antwort auf diese Frage in den Sinn kam.
Die Traumweber. Leiard.
Nein, sagte er sich energisch. Sie sind Freunde. Mehr nicht.
Es ergab durchaus einen Sinn, dass Auraya Leiard besuchte. Mairae musste annehmen, dass noch mehr hinter Aurayas nächtlichen Ausflügen steckte. Er sah Mairae an. Sie runzelte die Stirn, aber als sie seinen Blick auffing, lächelte sie und nickte. Dann erklärte Juran, dass sie eine Pause machen würden, um etwas zu essen, und Danjin seufzte vor Erleichterung. Er hatte halb befürchtet, dass Auraya zurückkehren und ihn dabei ertappen würde, wie er Spekulationen über ihr Privatleben anstellte. Wenn er sie wiedersah, würden seine Gedanken hoffentlich mit etwas anderem beschäftigt sein.
Es war ein langer Tag gewesen, aber jetzt, da Auraya dem Kriegsrat endlich entkommen war, wurde ihre Erschöpfung durch eine wachsende Erregung abgelöst. Schon bald würde sie wieder mit Leiard zusammen sein. Einzig Unfugs Verschwinden trübte ihre Laune. Als sie in ihr Zelt zurückgekehrt war, hatte sein Käfig offen gestanden. Zweifellos hielt der Veez gerade einen der Diener mit einer Jagd quer über den Lagerplatz in Atem.
Sie wagte es nicht, ohne Unfug aufzubrechen, denn es war durchaus möglich, dass das kleine Tier einen Diener direkt zum Lager der Traumweber führte. Das zu erklären könnte sich als schwierig erweisen.
»Auraya?«
Als sie Danjins Stimme erkannte, trat sie in den Eingang des Zelts. Zu ihrer Erleichterung sah sie ein zappelndes Pelzbündel in seinen Armen.
»Vielen Dank, Danjin.« Sie bedeutete ihm einzutreten. »Und nun zu dir, Unfug. Wo hast du gesteckt?«
»Owaya. Owaya. Böser Mann. Bringen Unfug weg. Böse.«
Sie sah Danjin bestürzt an. Er verzog das Gesicht und ließ den widerspenstigen Veez los, so dass er in Aurayas Arme hüpfen konnte. Unfug rollte sich um ihren Hals.
»Nicht so fest«, stieß sie hervor, dann wandte sie sich wieder an Danjin. »Was ist passiert?«
Seine Miene verriet eine Mischung aus Sorge und schlechtem Gewissen. »Beim Essen ist ein Diener zu mir gekommen und hat mir erzählt, dass Unfug verschwunden sei. Ich habe Stunden gebraucht, um ihn zu finden. Genau genommen hat er mich gefunden.«
Danjin seufzte. »Er hat wieder und wieder die Worte ›böser Mann‹ gesagt. Ich fürchte, dass jemand ihn von hier fortgeholt hat.«
Auraya konnte spüren, wie das Herz des Veez raste. Sie begann ihn zu streicheln und ertastete mit großer Sanftheit seinen Geist. Erinnerungen blitzten in seinen Gedanken auf. Ein menschliches Gesicht, dessen untere Hälfte von irgendetwas verdeckt wurde. Der Käfig, der geöffnet wurde, und eine Hand, die den Veez am Hals packte. Kratzen, beißen, der Geschmack von Blut. Ein Gefängnis, in dem er in der Falle saß und das er mit den Zähnen zerbissen hatte. Schließlich die Erleichterung der Freiheit.
Böser Mann!, sagte er in ihre Gedanken hinein. Sie zuckte zusammen. Er hatte sich noch nie telepathisch mit ihr in Verbindung gesetzt.
»Ich denke, du hast recht, Danjin«, sagte sie. Sie sah ihn an und spürte abermals Schuldgefühle bei ihm. Gewiss war er doch nicht derjenige gewesen...
Sie schaute genauer hin und war erleichtert, die wahre Quelle seiner Schuldgefühle zu entdecken. Mairae hatte ihn vor einigen Tagen gefragt, ob sie einen Geliebten hätte, und er hatte das Gespräch vergessen, bis sie das Thema an diesem Abend wieder aufgebracht hatte. Er schämte sich, weil er Spekulationen über ihr Privatleben angestellt hatte. Dann blitzte Leiards Name in seinen Gedanken auf, und ihre Erleichterung verflog. Danjin glaubte, dass sie Leiard lediglich aus Freundschaft besuchte, aber er hatte den Verdacht, dass Mairae mehr dahinter vermutete.
Ihr ganzer Körper wurde kalt. Sie wusste, dass Mairae dazu neigte, über dergleichen Dinge nachzugrübeln, aber sie hatte nicht geglaubt, dass die Frau so weit gehen würde, ihren Ratgeber zu Spekulationen über mögliche Geliebte zu verleiten. Wenn Mairae das tat, wie weit würde sie dann noch gehen, um ihre Neugier zu befriedigen? Es würde sie nur einen Ritt von wenigen Stunden kosten, um sich eine Antwort zu verschaffen. Aurayas Herz begann zu hämmern. Vielleicht war Mairae in ebendiesem Augenblick bereits auf dem Weg zum Lager der Traumweber.
Dieses Risiko kann ich nicht eingehen. Leiard muss sofort abreisen. Noch heute Nacht.
Auraya nahm Unfug von ihrer Schulter und reichte ihn an Danjin zurück.
»Bleib hier. Leiste ihm Gesellschaft. Er hat einen üblen Schrecken erlitten. Ich möchte so viel wie möglich über die Angelegenheit in Erfahrung bringen. Welcher Diener hat dir den Hinweis gegeben, dass du nach ihm suchen sollst?«
»Beiaya.«
Sie nickte, dann verließ sie das Zelt, um sich draußen sowohl mit den Augen als auch mit dem Geist umzusehen, aber sie konnte keine Beobachter wahrnehmen. Schließlich zog sie Magie in sich hinein und ließ sich zum Himmel emporschweben.
Das Lager der Traumweber war weiter von der Armee entfernt als zuvor, aber sie hatte es binnen weniger Augenblicke erreicht. In Leiards Zelt brannte eine Lampe. Sie landete auf dem Boden davor und ging zu der Türlasche hinüber.
»Traumweber Leiard?«
Die Lasche wurde geöffnet, aber nicht von menschlicher Hand. Auraya schaute in das Zelt hinein, und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Juran stand hinter dem Eingang.
Er weiß Bescheid. Diese Erkenntnis traf sie wie ein kalter Windstoß. Sie sah den Zorn in Jurans Zügen. Sein ganzer Körper war angespannt, und er hatte die Hände zu Fäusten geballt.
Sie hatte ihn noch nie so wütend gesehen. »Komm herein, Auraya«, sagte er mit leiser, gepresster Stimme.
Zu ihrer Überraschung machte sein Zorn ihr keine Angst. Stattdessen stieg eine Welle der Zuneigung in ihr auf. Sie kannte ihn gut genug, um sicher zu sein, dass seine Vernunft immer die Oberhand über seinen Ärger behielt. Er war kein Freund von Gewalttätigkeiten. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen er vom Tod Mirars gesprochen hatte, hatte er stets auch sein Bedauern darüber geäußert, dass dieser Schritt notwendig gewesen war.
Ich vertraue ihm, dachte sie. Ich vertraue sogar darauf, dass er Leiard niemals etwas antun würde, auch wenn er jetzt Bescheid weiß.
Aber Leiard befand sich nicht mit Juran im Zelt, und auch der Beutel, den er ständig bei sich trug, fehlte.
»Juran«, sagte sie ruhig. »Wo ist Leiard?«
Er holte tief Luft, dann stieß er den Atem langsam wieder aus.
»Ich habe ihn weggeschickt.« Sie sah ihn an. »Warum?«
»Warum?« Juran kniff die Augen zusammen. »Glaubst du, ich hätte nichts von eurer Affäre gewusst? Oder denkst du, ich hätte euch einfach so weitermachen lassen?«
Auraya verschränkte die Arme vor der Brust. »Das heißt also, dass ich deine Billigung brauche, wenn ich mir einen Geliebten suche?«
Sein Blick flackerte. »Als ich von... von dieser Angelegenheit ... erfahren habe, habe ich mir die gleiche Frage gestellt. Die Antwort ist einfach: Meine erste Pflicht gilt unserem Volk. Und das Gleiche gilt für dich.« Er schüttelte den Kopf. »Wie konntest du das tun, Auraya, obwohl dir die Konsequenzen im Falle einer Entdeckung doch klar gewesen sein müssen?«
Sie machte einen Schritt auf ihn zu. »Ich kann akzeptieren, dass unser Volk Veränderungen nur langsam annimmt, dass eine Weiterentwicklung sich über Generationen hinzieht. Ich hatte die Absicht, unsere Affäre geheim zu halten, um die Toleranz der Menschen auf keine allzu harte Probe zu stellen. Mir war klar, dass ich unsere Beziehung nicht für immer vor dir verborgen halten konnte. Und ich wollte es auch nicht. Du magst die Traumweber nicht, und ich wusste nicht, wie lange ich warten sollte, bevor ich dir davon erzähle. Ich bezweifle, dass du all deine Vorurteile überwunden hast. Wie lange hätte ich warten sollen? Jahre? Jahrzehnte? Jahrhunderte? Ich liebe jetzt, Juran. Leiard wird älter. Er wird eines Tages sterben. Ich kann nicht warten, bis du dich an den Gedanken gewöhnt hast, dass ein Traumweber meiner würdig sein könnte.«