Der Boden hatte aufgehört zu beben. Bellin schaute hinter sich, und das Blut gefror ihm in den Adern. Die Gauts waren verschwunden.
Ohne noch länger über das beunruhigende Verhalten des Berges und das seltsame Pfeifen der Luft nachzudenken, die in den Spalt gesogen wurde, schuf er einen Ball aus Licht und machte sich auf die Suche nach den Spuren seiner geliebten Gauts. Leiard drehte sich zu Jayim um, und ein Stich des Mitgefühls durchzuckte ihn, eines Mitgefühls, in das sich Gewissensbisse mischten. Der Junge war blass und fühlte sich offenkundig unwohl. Arems waren nicht gerade die angenehmsten Reittiere, erst recht nicht ohne Sattel. Jetzt, da sie kein Geschirr trugen und zu einer schnelleren Gangart angetrieben wurden, hatten sie ein Tempo angeschlagen, das sie stundenlang aufrechterhalten konnten, bei dem ihre Reiter jedoch arg durchgeschüttelt wurden. Aber es ließ sich nicht ändern. Juran hatte ihnen befohlen, unverzüglich aufzubrechen, und er war im Lager zurückgeblieben, um sicherzustellen, dass sie seiner Anweisung Folge leisteten. Sie hatten sich etwas zu essen eingepackt und ihre Beutel an sich genommen, aber es war offenkundig gewesen, dass Juran ihnen nicht erlauben würde, das Zelt abzubauen, den Tarn zu packen und die Arems anzuschirren.
Auch in diesem Punkt hatte Leiard ein schlechtes Gewissen. Die Arems gehörten Arleej. Sie hatte außerdem einige zusätzliche Arems gekauft, falls eins der Tiere krank oder lahm wurde, so dass sie nicht gezwungen sein würde, den Tarn stehen zu lassen. Er hatte keine Zeit gehabt, sie aufzusuchen oder auch nur einen Brief zurückzulassen, in dem er ihr sein plötzliches Verschwinden hätte erklären können. Einige Leute im Lager der Traumweber mussten Jurans Ankunft bemerkt und wahrscheinlich auch beobachtet haben, dass er kurz nach Leiard und Jayim wieder aufgebrochen war. Arleej würde erraten, was geschehen war. Sie würde sich Sorgen machen. Das tue ich auch, gestand er sich ein. Was wird das für den Rest der Traumweber bedeuten? Wird ihnen jetzt Gefahr drohen?
Eines steht fest, dachte er. Juran wird nicht bekanntmachen wollen, dass eine der Weißen ihr Bett mit einem Traumweber geteilt hat, daher wird er dieses Geheimnis wohl zu hüten wissen.
Es überraschte Leiard, dass Juran nur ihn fortgeschickt hatte und nicht alle Traumweber, und sei es auch nur, um die Tatsache zu verbergen, dass sich sein Zorn gegen einen Einzelnen richtete. Vielleicht begriff sogar Juran, dass er die Traumweber nach der Schlacht benötigen würde. Die Armee war riesig. Obwohl die Zirkler die Heilkünste der Traumweber eigentlich verschmähen sollten, geschah das in Notfällen doch nur selten. Nach der Schlacht würde es zu viele verletzte Soldaten geben, als dass die Priesterheiler allein mit ihnen fertigwerden würden.
Jayim wird eine großartige Gelegenheit entgehen, seine Ausbildung zu vervollständigen, dachte er. Er sah den Jungen schuldbewusst an. Jurans Ärger hatte Jayim zutiefst erschreckt. Dem Jungen war nur allzu deutlich bewusst gewesen, dass der Mann, der seinen Lehrer zur Rede stellte, derjenige war, der Mirar getötet hatte. Jayims Erleichterung, als Juran sie fortgeschickt hatte, war unübersehbar gewesen.
Wenn die Furcht sich legt, wird er wütend sein, ging es Leiard durch den Kopf. Er wird fragen, welches Recht Juran hat, uns wegzuschicken, obwohl mein einziges Verbrechen darin besteht, Auraya zu lieben.
Er wird dir die Schuld geben, machte sich eine vertraute Stimme bemerkbar. Er wird sich fragen, warum du ihn überhaupt in diese Situation gebracht hast. Er wird sich fragen, warum du es so weit hast kommen lassen, obwohl dir die Konsequenzen doch klar waren. Wenn offenbar wird, dass du dich auch weiterhin mit Auraya treffen willst, wird er sich fragen, ob dir überhaupt an deinen Leuten gelegen ist.
Mirar, dachte Leiard müde. Diese Wendung der Ereignisse muss dich sehr glücklich machen.
Glücklich? Nein. Genau das ist es, was ich befürchtet hatte. Glaubst du wirklich, Juran wird sich damit zufriedengeben, dich fortzuschicken? Du hast ihn an die Dinge erinnert, die er an uns Traumwebern am meisten hasst. Unseren Einfluss auf die Menschen. Unsere Fähigkeiten.Ich war als großer Verführer bekannt. Du wirst in seinen Augen an meine Stelle treten. Wenn du die Affäre mit Auraya fortsetzst, wird er davon erfahren. Er wird andere Möglichkeiten finden, dich zu bestrafen: Er wird dich treffen, indem er unseren Leuten Schaden zufügt.
Leiard schauderte. Nein. Auraya wird das nicht zulassen.
Er ist ihr Anführer. Sie ist eine Dienerin der Götter. Wenn die Götter ihr befehlen, ihm zu gehorchen, wird sie es tun. Das weißt du.
Sie wird alles tun, um zu verhindern, dass den Traumwebern Schaden zugefügt wird.
Alles? Würde sie die Weißen verlassen? Würde sie Macht und Unsterblichkeit aufgeben? Würde sie den Göttern, die sie liebt, trotzen? Du weißt, dass sie ihnen niemals den Gehorsam verweigern würde.
Leiard schüttelte den Kopf, aber ihm war klar, dass Mirar in dem letzten Punkt recht hatte. Die Luft wurde schwer und kalt, und es überraschte ihn nicht, als es zu regnen begann. Er ließ sich von den Tropfen benetzen, und schon bald waren seine Kleider durchnässt.
Weit vor sich konnte er Lichter ausmachen. Er zügelte sein Arem und kniff die Augen zusammen. Er war der Straße jetzt seit mehreren Stunden gefolgt. Die Armee lag weit hinter ihnen. Wer waren diese Leute? Hatte Juran seine Meinung geändert? Hatte er Priester ausgeschickt, die hier warteten, um ihn abzufangen?
Plötzlich hörte er vor sich Hufgetrappel. Als der Reiter näher kam, öffnete Leiard die Hand und schuf ein kleines Licht. Der Fremde trug die Uniform eines hochrangigen Mitglieds der torenischen Armee und grinste ihn an, als er vorbeiritt. Seine selbstgefällige Zufriedenheit berührte Leiards Sinne wie eine Woge starken Parfüms. Jetzt wurde Leiard klar, dass die Lichter von einem reisenden Bordell stammen mussten. Er seufzte vor Erleichterung und trieb sein Arem wieder an.
Auraya liebt dich, wisperte Mirar. Und du liebst sie.
Leiard runzelte die Stirn, erstaunt über diesen plötzlichen Gesinnungswandel Mirars.
Du sagst, sie würde alles aufgeben, um unsere Leute zu schützen. Ich glaube dir nicht, aber falls es doch der Wahrheit entsprechen sollte, bedenke Folgendes: Solltest du das von ihr verlangen? Solltest du sie bitten, aufzugeben, was sie hat?
So weit wird es vielleicht nicht kommen.
Oh, doch. Ich kenne Juran. Er wird von ihr verlangen, dass sie eine Wahl trifft. Glaubst du, du wärst ein guter Tausch für die Götter, die sie so sehr liebt? Kannst du ihr geben, was sie ihr geben?
Leiard schüttelte den Kopf.
Möchtest du sie alt werden und sterben sehen und wissen, dass es deine Schuld ist?
Jedes von Mirars Worten fühlte sich an wie ein Messerstich.
Die Liebe ist berauschend, insbesondere die verbotene Liebe, aber Leidenschaft verblasst und wird zur Gewohnheit. Und Gewohnheit wird zur Langeweile. Wenn der Rausch der Verliebtheit abgeklungen ist, glaubst du, dass sie niemals auf das zurückblicken wird, was sie war und was sie hätte sein können, glaubst du, dass sie sich niemals wünschen wird, dir nie begegnet zu sein?
Leiards Kehle war jetzt wie zugeschnürt. Er wollte einwenden, dass es so gewiss nicht sein würde, aber er war sich nicht sicher.
Wenn du sie liebst, fuhr Mirar drängend fort, dann gib sie frei. Um ihrer selbst willen. Lass sie weiterleben, damit sie wieder und wieder lieben kann.
Und wenn sie nicht freigegeben werden will?
Dann musst du sie davon überzeugen, dass es das Richtige ist. Sag ihr, dass du sie nicht wiedersehen willst.