Sie wird mir nicht glauben. Vergiss nicht, sie kann meine Gedanken lesen. Mirar schwieg für einen Moment. Die Lichter vor ihnen waren jetzt heller. Dann lass mich es tun.
Leiard schauderte. Er fror entsetzlich, und er wusste, dass es nicht nur an dem Regen lag, der seine Kleider durchnässte.
Sie wird heute Nacht nach dir suchen. Ich werde nur lange genug bleiben, um sie zu überreden, dich zu verlassen.
Er war so müde. Müde der Gefahren und der Heimlichtuerei. Er blickte in den dunklen Himmel auf, und der Regen peitschte ihm ins Gesicht.
Es tut mir leid, Auraya, dachte er. Unsere Liebe kann kein glückliches Ende nehmen. Mirar hat recht: Je länger diese Beziehung dauert, umso größeren Schaden wird sie anrichten.
Er holte tief Luft, dann flüsterte er: »Mirar.«
Als die ersten Strahlen der Morgendämmerung den östlichen Himmel erhellten, schwanden Aurayas Hoffnungen langsam. Sie war, so weit ein Reiter an einem Tag reisen konnte, vom Lager der Traumweber aus in jede Richtung geflogen, sie war in die Goldebenen zurückgekehrt und hatte die Vorhügel der Berge abgesucht. Anschließend war sie der Straße fast den ganzen Weg bis zum Pass gefolgt. Sie hatte keine Spur von Leiard entdecken können.
Während sie geflogen war, hatte sie ihre Sinne offen für menschliche Gedanken gehalten. Sie hatte den Geist von Soldaten und Dörflern, von Hirten und Prostituierten wahrgenommen, aber Leiard schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein.
Wie die Pentadrianer, dachte sie.
Jetzt schwebte sie hoch über dem Boden, unschlüssig, was sie als Nächstes tun sollte.
Vielleicht habe ich etwas übersehen. Ich könnte in das Lager der Traumweber zurückkehren und noch einmal von vorn anfangen. Diesmal werde ich in Kreisen fliegen und mich langsam von meinem Ausgangspunkt entfernen...
Sie tat, was sie sich vorgenommen hatte, doch als sie den Lagerplatz der Traumweber erreichte, waren diese bereits fort. Sie konnte sie in einiger Entfernung sehen und bemerkte auch, dass ein einzelner Reiter ihnen folgte. Kurz darauf fing sie müde Gedanken und eine vertraute Persönlichkeit auf.
Jayim.
Der Junge näherte sich einer Anhöhe und zügelte sein Arem. Als er weit voraus die Traumweber sah, stieg Erleichterung in ihm auf. Diesem Gefühl folgten Gewissensbisse und Unsicherheit. Er blickte über seine Schulter nach Südosten.
Ich hätte ihn nicht allein lassen dürfen ... Aber er wollte nicht auf mich hören. Die Art, wie er gesprochen hat... Irgendetwas stimmt da nicht. Ich muss Hilfe holen.
Er trieb das Arem wieder an; wenn er die anderen rechtzeitig einholte, so überlegte er, würde Arleej in das Lager des Bordells zurückkehren können, bevor Leiard weiterzog. Auraya sah ihm mit wachsendem Unbehagen nach. Das Lager des Bordells?
Sie war über einige dieser Lagerstätten hinweggeflogen. Es wurde allgemein akzeptiert, dass Prostituierte eine große Armee begleiteten. Auraya hatte gemischte Gefühle, was diese Frauen betraf. Obwohl sie verstand, dass einige Stunden im Bett einer Hure einem Soldaten neue Zuversicht und Kraft gaben, bestand doch immer die Gefahr, dass sich auf diese Weise Krankheiten ausbreiteten. Außerdem gefiel es ihr nicht, dass die Männer glaubten, sie würden ihren Ehefrauen nicht untreu werden, indem sie während eines Krieges mit einer Hure schliefen.
Das war der Grund, warum sie die Gedanken der Menschen in diesen Lagern bisher nicht allzu gründlich erkundet hatte. Und genau deshalb waren die Bordelle wie geschaffen dafür, sich vor ihr zu verstecken. Musste sie daraus den Schluss ziehen, dass Leiard sich vor ihr versteckte?
Nein. Er versteckt sich vor Juran.
Sie flog zu dem nächsten Lager, das ihr während der vergangenen Nacht aufgefallen war, doch Leiard befand sich weder in dem ersten Lager noch in den beiden darauffolgenden. Dann fiel ihr wieder ein, in welche Richtung Jayim geblickt hatte, und sie flog weiter nach Südosten. Etwa einen halben Tagesritt von der Armee entfernt stieß sie auf ein weiteres Bordell. Als sie den Geist der Menschen dort erforschte, sah sie in den Gedanken einer der Huren Leiards Gesicht.
Und prallte zurück, als sie die Gedanken las, die mit diesem Bild einhergingen.
...Dieser Hintern. Und ich habe ihn gestern Nacht für knochig gehalten. Das war eindeutig ein Irrtum. Wenn es nach mir ginge, könnte er diese Nacht umsonst bekommen. Wer hätte gedacht, dass ein Traumweber so gut im Bett ist...
Auraya unterbrach die Verbindung zu der Frau. Während sie weiter über dem Bordell schwebte, starrte sie ungläubig auf die Zelte hinab.
Ich muss mich irren. Das Mädchen muss an einen anderen Traumweber gedacht haben. An einen, der so aussieht wie Leiard.
Sie blickte abermals in die Gedanken der Menschen unter ihr. Diesmal hielt sie Ausschau nach einem männlichen Geist. Als sie Leiard fand, brauchte sie einen Augenblick, um ihn zu erkennen.
Seine Gedanken waren nicht die eines Mannes, der von seiner Geliebten getrennt wurde. Es waren die eines Mannes, der eine unerwartete Freiheit auskostete. Es ist nicht so, dass ich Auraya nicht für attraktiv oder liebenswert hielte, sagte er sich. Aber sie ist all diesen Ärger nicht wert. Am besten, wir stehlen uns ohne große Erklärungendavon.
Wie ausgelöscht waren die Zuneigung und der Respekt, die sie immer in seinem Geist gesehen hatte. Sie konnte nicht einmal einen schwachen Widerschein der Liebe finden, die er für sie empfunden hatte. Stattdessen betrachtete er sie mit einem milden Bedauern.
Sie keuchte und zuckte zurück, aber dem Schmerz, der sie zerriss, konnte sie nicht entrinnen. So fühlt es sich also an,wenn einem das Herz gebrochen wird, ging es ihr durch den Kopf. Als hätte jemand einem ein Messer in den Leib gerammt und die Klinge umgedreht.
Nein, es ist so, als hätte jemand mich ausgeweidet und zum Sterben liegen lassen. Tränen schössen ihr in die Augen, aber sie kämpfte dagegen an. Er hatte sie geliebt. Das wusste sie. Jetzt liebte er sie nicht mehr. Nur einige wenige Worte von Juran hatten seine Gefühle für sie getötet.
Wie kann das sein? Wie kann etwas, das so stark war, so leicht getötet werden? Ich verstehe es nicht. Sie wollte noch einmal hinschauen, wollte nach einer Erklärung suchen, konnte sich aber nicht dazu überwinden. Stattdessen ließ sie sich langsam höher in den Himmel steigen. Einmal mehr fing sie die Gedanken der Hure auf. Leiard hatte sich soeben den Bart abrasiert. Das Mädchen fand, dass er dadurch viel jünger und attraktiver aussah. Sie sprach ihren Gedanken aus und sagte auch, dass er jederzeit in ihrem Zelt willkommen sei. Ob er heute Nacht zurückkehren werde? Nein. Aber vielleicht würde er sie besuchen, wenn er irgendwann nach Porin käme...
Einige Menschen traten jetzt aus den Zelten unter ihr. Auraya stieg noch ein wenig höher auf, denn ihr war bewusst, dass jeder, der zum Himmel aufblickte, sie entdecken konnte. Sie stieg immer höher, bis das Lager nur noch ein winziger Fleck in der Landschaft unter ihr war. Als sie die Wolken erreichte, verschwand die Welt hinter einer nassen, kalten weißen Decke.
41
Emerahl hob die geflickte Türlasche des Tarns an und spähte hinaus. Dem Kunden zufolge, um den sie sich in der letzten Nacht gekümmert hatte, war die Armee ihnen nur einen Ritt von wenigen Stunden voraus. Als sie der Hoffnung Ausdruck verliehen hatte, dass sie die Soldaten bald einholen würden, hatte der Mann den Kopf geschüttelt. Die Armee reiste in schnellem Tempo, hatte er ihr erklärt. Sie würde den Pass vor dem Bordell erreichen. Außerdem wäre es ohnehin sicherer für sie, einen gewissen Abstand zu wahren. Wer konnte schließlich wissen, welche Gefahren in den Bergen lauerten? Danach hatte er versucht, sie zu trösten und zu beruhigen. Er war der Typ Mann gewesen, der eine schwache Frau brauchte, um sich selbst stark und männlich zu fühlen. Er war kein Mensch, der sich in der Nähe tatkräftiger, fähiger Frauen wohlfühlte, daher war es am Morgen ein Leichtes gewesen, ihn loszuwerden, indem sie selbstbewusst durch das Zelt geschritten war und ihn in ein intelligentes Gespräch verstrickt hatte. Seine Frau tat ihr leid. Männer, die schwache, dumme Frauen brauchten, konnten sehr unangenehm sein, wenn sie den Eindruck gewannen, dass die natürliche Ordnung der Dinge durcheinandergebracht worden war.