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»Warum habt Ihr unser Dorf angegriffen? Lasst uns sofort frei!«

Auraya unterdrückte ein Stöhnen. Dies war nicht die Art, wie man einen Dunweger ansprach, und gewiss nicht die Art einen Dunweger anzusprechen, der soeben ein Dorf als Geisel genommen hatte. Bai ignorierte die Forderung des Priesters. »Kommt mit.«

Als Bai sich auf dem Absatz umdrehte, warf Qurin einen verzweifelten Blick zu Avorim, der ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter legte. Dann folgten die beiden Bai aus dem Tempel.

Sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, begannen die Dorfbewohner, Vermutungen über ihre Lage anzustellen. Obwohl das Dorf nicht weit von Dunwegen entfernt lag, wussten seine Bewohner nur wenig über das benachbarte Land. Sie brauchten auch nichts darüber zu wissen. Die Berge, die die beiden Länder trennten, waren fast unpassierbar, daher wurde der Handel übers Meer oder über den weit südlich gelegenen Pass geführt.

Der Gedanke daran, was Qurin und Avorim sagen könnten, um Bai zu erzürnen, jagte Auraya einen Schauer der Furcht über den Rücken. Sie bezweifelte, dass es, abgesehen von Leiard, irgendjemanden im Dorf gab, der genug Kenntnisse über die Dunweger besaß, um diese Situation durch Verhandlungen zu klären. Aber Avorim würde einem Traumweber niemals gestatten, für sie zu sprechen.

Auraya dachte an den Tag vor fast fünf Jahren zurück, an dem sie Leiard zum ersten Mal begegnet war. Ihre Familie war in der Hoffnung in das Dorf gezogen, dass der Gesundheitszustand ihrer Mutter sich in der Ruhe und Sauberkeit des Landlebens verbessern würde. Er hatte sich nicht verbessert. Auraya hatte gehört, dass Traumweber gute Heiler waren, daher hatte sie Leiard aufgesucht und ihn kühn gebeten, ihre Mutter zu behandeln.

Seither hatte sie ihn alle paar Tage besucht. Sie hatte eine Menge Fragen zu der Welt, in der sie lebte, Fragen, die niemand beantworten konnte. Priester Avorim konnte ihr nur von den Göttern erzählen, und er war zu schwach, um sie viele magische Gaben zu lehren. Sie wusste, dass Leiard über starke Magie verfügte, denn ihm fielen stets neue Gaben ein, die er sie lehren konnte.

Obwohl sie Avorim nicht mochte, war ihr klar, dass sie eigentlich von einem Zirklerpriester die Sitten und Gebräuche der Zirkler lernen sollte. Sie liebte die Rituale und Predigten, die Geschichte und die Gesetze, und sie schätzte sich glücklich, in einem Zeitalter zu leben, dem die Götter Frieden und Wohlstand geschenkt hatten.

Wenn ich Priesterin wäre, wäre ich viel besser als er, dachte sie. Aber das wird niemals geschehen. Solange Mutter krank ist, wird sie mich hier brauchen, damit ich mich um sie kümmere.

Ihre Gedanken wurden durch das Öffnen der Tempeltüren unterbrochen. Qurin und Avorim kamen eiligen Schrittes herein, und die Dorfbewohner scharten sich um sie.

»Anscheinend versuchen diese Männer, das geplante Bündnis zwischen Dunwegen und Hania zu verhindern«, erzählte Qurin ihnen.

Avorim nickte. »Wie ihr wisst, versuchen die Weißen schon seit Jahren, ein Bündnis mit den Dunwegern zu schließen. Jetzt, da der argwöhnische alte I-Orm gestorben ist und sein vernünftiger Sohn, I-Portak, die Herrschaft übernommen hat, haben die Weißen einen gewissen Erfolg verzeichnen können.«

»Warum sind die Dunweger dann hier?«, fragte jemand.

»Um das Bündnis zu verhindern. Sie haben mich aufgefordert, mit den Weißen in Verbindung zu treten, um ihre Forderungen zu übermitteln. Ich habe es getan, und ich... ich habe mit Juran persönlich gesprochen.«

Auraya hörte, dass einige der Dorfbewohner scharf die Luft einsogen. Es war selten, dass Priester auf telepathischem Wege mit einem der Auserwählten der Götter sprachen, den vier Führern der Zirkler, die die Weißen genannt wurden. Zwei rote Flecken waren auf Avorims Wangen erschienen.

»Was hat er gesagt?«, fragte der Dorfbäcker.

Avorim zögerte. »Er sorgt sich um uns und wird tun, was er kann.«

»Und das wäre?«

»Das hat er nicht gesagt. Er wird wahrscheinlich zuerst mit I-Portak sprechen.«

Mehrere Fragen folgten. Avorim hob die Stimme. »Die Dunweger wollen keinen Krieg mit Hania – das haben sie uns unzweideutig zu verstehen gegeben. Wer den Weißen trotzt, trotzt schließlich damit den Göttern selbst. Ich weiß nicht, wie lange wir noch hier sein werden. Wir müssen auf eine Wartezeit von mehreren Tagen vorbereitet sein.«

Die Fragen wandten sich jetzt praktischeren Belangen zu, und Auraya fiel auf, dass sich auf Leiards Gesicht Sorge und Zweifel abzeichneten. Wovor hat er Angst? Bezweifelt er, dass die Weißen uns retten können?

Auraya träumte. Sie ging einen langen, von Schriftrollen und Tafeln gesäumten Flur hinunter. Obwohl all diese Dinge sehr interessant aussahen, beachtete sie sie nicht weiter; aus irgendeinem Grund wusste sie, dass keins davon das enthielt, was sie benötigte. Etwas trieb sie weiter. Schließlich gelangte sie in einen kleinen, runden Raum. Auf einem Podest in der Mitte befand sich eine große Schriftrolle. Die Schriftrolle entfaltete sich, und Auraya hatte den Text vor Augen.

Mit hämmerndem Herzen erwachte sie und fuhr erschrocken auf. Im Tempel war es still bis auf die gedämpften Geräusche der schlafenden Dorfbewohner. Sie blickte sich forschend um; Leiard lag schlafend in einer anderen Ecke des Raums.

Hatte er ihr den Traum geschickt? Wenn es so war, hatte er damit ein Gesetz gebrochen, auf dessen Missachtung die Todesstrafe stand.

Spielt das eine Rolle, wenn wir alle ohnehin sterben werden?

Auraya streifte sich ihr Kapas wieder über und dachte über ihren Traum nach und darüber, warum sie sich jetzt so sicher war, dass dem Dorf furchtbares Unheil drohte. Ein Absatz auf der Schriftrolle hatte gelautet:

»Leven-ark« bedeutet auf Dunwegisch »Ehrenverzichter«. Das Wort beschreibt einen Krieger, der alle Ehre und alle Verpflichtungen beiseitegeschoben hat, um für eine ideelle oder moralische Sache zu kämpfen.

Zuvor hatte es für Auraya keinen Sinn ergeben, dass ein dunwegischer Krieger seinen Clan entehren sollte, indem er unbewaffnete Dorfbewohner als Geiseln nahm oder wehrlose Menschen tötete. Jetzt verstand sie. Ehre bedeutete diesen Dunwegern nichts mehr. Sie konnten alles tun, auch die Dorfbewohner niedermetzeln.

Die Weißen besaßen machtvolle Gaben und könnten die Dunweger in einem Kampf mühelos besiegen, aber während dieses Kampfes würden die Dunweger die Dorfbewohner vielleicht töten, bevor die Weißen sie überwältigen konnten. Wenn die Weißen den Forderungen der Dunweger jedoch nachgaben, würden andere sie vielleicht nachahmen. Viele weitere Hanianer könnten gefangen genommen und bedroht werden.

Die Weißen werden nicht nachgeben, dachte sie. Eher würden sie uns alle töten lassen, als andere dazu ermutigen, ein Dorf als Geisel zu nehmen. Auraya schüttelte den Kopf. Warum hat Leiard mir diesen Traum geschickt? Gewiss würde er mich nicht mit der Wahrheit quälen, wenn es nichts gäbe, was ich dagegen tun könnte.

Noch einmal dachte sie über die Informationen in der Schriftrolle nach. »Leven-ark.«

»...alle Ehre und alle Verpflichtungen beiseitegeschoben hat.« Wie können wir das zu unserem Vorteil nutzen?

Den Rest der Nacht lag sie wach und grübelte. Erst als das Morgenlicht in den Raum drang, fand sie die Antwort.

Nach mehreren Tagen waren die Gemüter gereizt, und in der abgestandenen Luft lagen unangenehme Gerüche. Wenn Priester Avorim nicht damit beschäftigt war,

Streitigkeiten unter den Dorfbewohnern zu schlichten, sprach er ihnen Mut zu. Er hielt jeden Tag mehrere Predigten. Heute hatte er von den dunklen Zeiten vor dem Krieg der Götter gesprochen, als Chaos die Welt regierte.

»Priester Avorim?«, fragte ein Junge, als die Geschichte endete.

»Ja?«

»Warum töten die Götter die Dunweger nicht?«