»Kuar hat keine gewöhnlichen Menschen getötet«, rief Juran ihr ins Gedächtnis. »Wir sollten nicht alle Pentadrianer nach den Taten des ersten Zauberers beurteilen, dem wir begegnet sind. Jener könnte seine Macht missbraucht haben, während seine Oberen ihn nicht unter ihrer Kontrolle hatten.«
Dyara nickte stirnrunzelnd. »Das ist wahr.«
»Wir können sicher sein, dass sie uns verachten«, sagte Rian. »Beide haben uns Heiden genannt.«
»Ja«, stimmte Auraya ihm zu. »Kuar drängte mich, die Götter anzurufen, als glaube er nicht, dass sie mich beschützen würden.«
Es ist offenkundig, dass ihr größter Groll gegen uns seinen Grund in der Religion hat und dass sie gefährlich sind, sagte Mairae. Selbst durch die telepathische Verbindung konnte Auraya die Ungeduld der anderen Frau spüren.
Ich möchte wissen, wozu sie fähig sind und ob sie weitere Angriffe planen.
»Wir müssen weitere Spione aussenden«, sagte Dyara.
Juran nickte. »Wir haben bereits einige dort, aber es ist an der Zeit, ihre Zahl zu vergrößern. Außerdem brauchen wir mehr Priester, um die Weitergabe von Informationen zu beschleunigen.«
»Sie mögen keine zirklischen Priester«, warnte Rian. »Alle Priester und Priesterinnen, die nach Südithania gereist sind, sind wieder nach Hause geschickt worden.«
»Dann werden diejenigen, die wir jetzt hinschicken, eben nicht als solche zu erkennen sein.«
»Wenn man sie entdeckt, wird man sie töten.«
Juran verzog das Gesicht. »Das ist ein Risiko, das wir eingehen müssen. Sucht Freiwillige unter den Priestern und Priesterinnen, und stellt sicher, dass sie gut informiert sind. Ich möchte niemanden nach Südithania schicken, der sich der Gefahr nicht vollauf bewusst ist.«
Rian nickte.
Juran rieb sich nachdenklich das Kinn. »Kuar hat nicht von Anfang an auf sich aufmerksam gemacht. Nicht so, wie es der erste pentadrianische Zauberer getan hat. Anscheinend haben beide zunächst einmal unsere Verteidigungsstrategien und unsere Stärke getestet. Ich hoffe, sie sind zu dem Schluss gekommen, dass wir zu mächtig sind, so dass sie von weiteren Angriffen absehen werden.« Er seufzte. »Es ist offenkundig, dass keiner von uns einem dieser pentadrianischen Zauberer allein entgegentreten sollte. Wir werden unsere eigenen Maßnahmen im Verborgenen durchführen müssen, so dass nur einige wenige Menschen, denen wir vertrauen können, davon erfahren, wenn einer von uns von den anderen getrennt ist.« Er runzelte die Stirn. »Hoffen wir, dass diese beiden Zauberer nicht gemeinsam zurückkehren.«
Auraya schauderte bei dem Gedanken, was ihr einen mitfühlenden Blick von Dyara eintrug. Dyaras Einstellung Auraya gegenüber hatte sich merklich verändert. Sie war weniger kritisch und beinahe freundschaftlich. Auraya hoffte, dass dies das Ergebnis ihres Erfolgs in Somrey war, argwöhnte jedoch, dass Dyara ihr lediglich den Rücken stärken wollte, falls der Kampf gegen Kuar Auraya aus dem Gleichgewicht gebracht haben sollte.
»Wo ist Kuar jetzt?«, fragte Dyara.
»Einen Tag nach seiner Begegnung mit Auraya wurde er auf dem Weg in Richtung Norden gesehen, dann hat er wie der erste Zauberer ein Boot gestohlen.«
»Was ist mit dieser Zauberin, die in Toren gesehen wurde?«, fragte Rian. Juran schüttelte den Kopf. »Sie ist keine Pentadrianerin. Nach den Berichten, die ich gehört habe, hat sie allein in einem alten Leuchtturm gelebt und den Einheimischen Heilmittel verkauft. Irgendwann hat der Dorfvorsteher an ihrem Tun Anstoß genommen und einen Priester herbeigerufen, der sie vertreiben sollte, aber sie konnte noch vor seiner Ankunft fliehen. Der Priester hätte es normalerweise dabei bewenden lassen, aber die Geschichten, die sich um die Frau ranken, haben ihn beunruhigt. Die Dörfler behaupten, sie habe mehr als hundert Jahre lang in dem Leuchtturm gelebt. Er befürchtet, sie könnte eine Wilde sein.«
»Eine alte Frau? Könnte es sich um die Hexe handeln?«, warf Rian ein.
Juran zuckte die Achseln. »Menschen können länger leben als ein Jahrhundert, und die Geschichten über die Vergangenheit könnten von Generation zu Generation übertrieben werden. Wir sind jedoch dazu verpflichtet, alle Berichte über Wilde zu überprüfen, daher habe ich den Priester angewiesen, sie zu finden.«
»Ist das nicht gefährlich?«, fragte Auraya. »Wenn sie eine Wilde ist, wäre sie mächtiger als er.«
Juran nickte. »Das ist ein Risiko, das der Priester freiwillig eingegangen ist. Wir haben jedenfalls keine Zeit, Jagd auf sie zu machen.« Er schüttelte den Kopf. »Falls er bestätigt, dass sie tatsächlich eine Wilde ist, werden wir...«
Seine Stimme verklang, und sie alle blickten sich überrascht um, als sich die fünf Seiten des Altars aufzuklappen begannen. Langsam erhoben sie sich.
»Was hat das zu bedeuten?«, wollte Auraya wissen.
»Die Götter sind hier«, flüsterte Rian, in dessen Augen jetzt frommer Eifer brannte. Plötzlich hallten Schritte durch die gewaltige Kuppel.
Dyara verdrehte die Augen. »Wenn sie hier sind, haben sie heute jedenfalls eine bescheidene Gestalt angenommen. Nein, wir werden unterbrochen, und es muss wichtig sein.« Sie blickte vielsagend über Rians Schulter. Einer nach dem anderen drehten sie sich um und sahen einen Hohepriester, der auf sie zugeeilt kam.
»Verzeiht die Störung«, stieß er hervor, als er das Podest erreichte. »Es sind soeben zwei Botschafter eingetroffen.«
»Aus welchem Land kommen sie?«, fragte Juran.
»Aus... aus Si.«
Die Siyee! Auraya sog scharf die Luft ein und hörte gleichzeitig einen leisen Laut der Überraschung von Dyara. Juran sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, bevor er sich von seinem Stuhl entfernte.
»Dann sollten wir sie besser gleich empfangen«, sagte er.
Sie verließen den Altar und eilten zum Rand der Kuppel hinüber. Draußen hatten sich hunderte von Priestern und Priesterinnen versammelt, die zum Himmel hinaufstarrten. Auraya folgte ihrem Blick, und ihr Herz machte einen Satz, als sie die winzigen Gestalten den Turm umkreisen sah.
»Sie wissen wahrscheinlich nicht, dass wir hier unten sind«, sagte Dyara. »Sollen wir sie oben auf dem Turm empfangen?«
Auraya lächelte. »Die Mühe kann ich euch ersparen.« Dyara wandte sich mit undeutbarer Miene zu Auraya um. Juran kicherte.
»Die Absichten der Götter werden immer klarer«, murmelte er. »Geh, Auraya. Begrüße sie sozusagen in ihrem eigenen Element.«
Auraya konzentrierte sich. Sie zog Magie in sich hinein, schwang sich in die Luft und beschleunigte ihre Geschwindigkeit, bis die Mauer des Turms an ihr vorbeijagte. In den Fenstern erblickte sie zahlreiche Gesichter. Die Siyee bemerkten sie erst, als sie sie fast erreichte hatte. Erschrocken flogen sie davon.
Auraya verharrte in der Luft und sah zu, wie die Siyee in einiger Entfernung von ihr zu kreisen begannen. Aus der Nähe betrachtet konnte sie erkennen, dass alles, was man ihr je über die Siyee erzählt hatte, falsch war. Bis auf die Dinge, die Leiard ihr erzählt hatte, korrigierte sie sich.
Sie sahen aus wie Kinder. Aber es lag nicht nur an ihrer geringen Körpergröße, sondern auch daran, dass ihre Köpfe im Verhältnis zu ihrem Körper sehr groß wirkten. Ihre Oberkörper waren breit und ihre Arme drahtig und muskulös. Ihre Flügel waren nicht gefiedert, und sie waren auch nicht an ihrem Rücken verankert, wie die Legenden es erzählten. Ihre Arme waren ihre Flügeclass="underline" Die Knochen ihrer Finger waren verlängert und bildeten das Rahmenwerk für eine durchscheinende Membran, die sich von den Fingerspitzen bis zum Torso erstreckte.
Die Armlöcher der Wämser, die sie trugen, reichten ihnen bis zur Hüfte hinab, um Platz für ihre Flügel zu schaffen. Eng anliegende Hosen bedeckten den Unterkörper und waren mit dünnen Riemen an ihre Beine gebunden.
Als die beiden Siyee sich in vorsichtigen Kreisen näherten, konnte Auraya noch mehr Einzelheiten erkennen. Die letzten drei Finger einer jeden Hand bildeten die Flügel und ließen Daumen und Zeigefinger frei. Sie konnte nicht entscheiden, ob sie schön waren oder hässlich. Ihre kantigen Gesichter mit den großen Augen waren von außerordentlicher Eleganz, aber ihre mageren Körper und die federlosen Flügel wurden den Beschreibungen in Schriftrollen und Gemälden nicht gerecht. Dennoch umkreisten sie sie mit einer mühelosen Anmut, die sie ungemein faszinierte.