»Bei der nächsten Zusammenkunft?« »Ja. Es sei denn, es ergibt sich eine bessere Gelegenheit.« »Ich vermute, das ist eine vernünftige Lösung«, sagte sie.
Einige Herzschläge lang standen sie schweigend voreinander. Er konnte sich nur allzu deutlich an das Gefühl ihrer Haut unter seinen Händen erinnern und wünschte sich sehnlichst, sie noch einmal zu berühren.
Sie seufzte. »Meinst du, dass du allein zurückfinden kannst?«
»Nein.«
Sie lachte. »Lügner. Natürlich kannst du es. Ich denke, es wäre besser, wenn wir aus verschiedenen Richtungen zurückkehren würden. Ich werde um die andere Seite des Offenen Dorfes herumgehen.«
»Das ist ein Umweg. Wäre es denn wirklich so schlimm, wenn die Leute uns zusammen sähen?«
»Mein Vater möchte nicht, dass ich außerhalb des Stammes heirate.« Sie hielt inne.
»Nicht dass ich dich bitten wollte, mich zu heiraten. Aber es gefällt ihm nicht, wenn ich mit dir rede.«
Er starrte sie an, und mit einem Mal verlor die Nacht ihren Zauber.
Sie trat näher an ihn heran. »Keine Sorge«, sagte sie leichthin. »Ich werde seine Meinung schon noch ändern.« Sie beugte sich vor und küsste ihn fest auf die Lippen. Dann entwand sie sich seinen Armen. Er konnte ihre Zähne im Licht der Laube kurz aufblitzen sehen, bevor sie sich umdrehte und davoneilte.
Emerahl hatte schon vor langer Zeit gelernt, welches die einfachste Methode war, um die geheimen Wege einer Stadt zu entdecken: Man musste sich mit den jüngsten und ärmsten Bewohnern anfreunden. Die schmuddeligen, schlauen Straßenkinder konnten einem mehr über den Untergrund der Stadt erzählen als die Erwachsenen, die sie regierten. Sie verstanden sich darauf, sich unsichtbar zu machen, und ihre Treue ließ sich billig erkaufen.
Am Tag, nachdem sie auf dem Markt nur mit knapper Not hatte entkommen können, hatte sie sich auf die Suche nach ihnen gemacht. Sie hatte einen kleinen Platz in dem ärmeren Viertel der Stadt gefunden und einige Stunden damit zugebracht, das Treiben um sie herum zu beobachten und zu belauschen. Die Einheimischen waren keine Narren, und sie hatte nur zwei Fälle beobachtet, in denen es Taschendieben gelang, ihre Mission erfolgreich zu Ende zu führen.
Als einer der Jungen an ihr vorbeiging, sah sie ihm fest in die Augen.
»Das ist ein hässlicher Husten, den du dir da eingefangen hast«, sagte sie. »Es wäre besser, wenn du ihn loswürdest, bevor das Wetter kalt wird.«
Der Junge verlangsamte seine Schritte und starrte sie argwöhnisch an, während er ihre abgetragenen, aber größtenteils sauberen Kleider musterte.
»Was kümmert dich das?«
»Warum sollte es mich nicht kümmern?«
Er blieb stehen und kniff die Augen zusammen. »Wenn es dich kümmern würde, würdest du mir ein paar Münzen geben.«
Sie lächelte. »Und was würdest du damit anfangen?«
»Essen kaufen – für mich und meine Schwester.« Er hielt inne. »Ihr Husten ist noch schlimmer als meiner.«
»Wie wäre es, wenn ich das Essen für dich kaufen würde?«, schlug sie vor. Er antwortete nicht. Sie wandte den Blick ab. »Das ist die einzige Chance, wie du von mir etwas bekommen kannst.«
»Also schön. Aber nicht so ein komisches Zeug. Ich werde mit dir auf den Markt gehen, sonst nirgendwohin.«
Sie folgte ihm zu dem einheimischen, kleineren Markt und kaufte ihm Brot und Früchte, dann gönnte sie ihnen beiden noch dünne Pastetentaschen mit einer Füllung aus frisch gegrilltem Fleisch. Sie bemerkte, dass er die letzten Bissen in eine Tasche schob, und vermutete, dass seine Geschichte von einer Schwester der Wahrheit entsprach.
»Gegen diesen Husten«, sagte sie, »werden du und deine Schwester ein wenig hiervon benötigen.« Sie kaufte einem Kräuterhändler eine abschwellende Lösung ab, nachdem sie kritisch daran gerochen hatte, um festzustellen, ob sie tatsächlich die Kräuter enthielt, die sich angeblich darin befanden. »Ein Löffel voll von dieser Medizin dreimal am Tag. Nicht mehr, sonst werdet ihr euch vergiften.«
Er sah sie mit großen Augen an, als er die Flasche entgegennahm. »Danke.«
»Und nun könntest du mir als Gegenleistung deinerseits einen kleinen Gefallen tun.« Er runzelte die Stirn. »Keine Bange. Ich möchte lediglich einen Rat. Ich brauche einen Ort, an dem ich einige Tage bleiben kann. Irgendetwas Billiges. Und ruhig sollte es sein, wenn du weißt, was ich meine.«
An diesem Abend war sie zu Gast bei einer kleinen Bande von Kindern, die im Kellergeschoss eines ausgebrannten Hauses in den Außenbereichen des Armenviertels lebten. Sie fand heraus, dass Rayo, der Junge, dem sie geholfen hatte, tatsächlich eine kranke Schwester hatte. Das Mädchen litt unter einer ernsthaften Entzündung der Brust, daher holte sie ihre eigenen Heilmittel hervor, um der Krankheit mit größerem Nachdruck zu Leibe zu rücken.
Es dauerte nicht lange, bis die Neuigkeit von einer alten Heilerin, nach der der Priester suchte, die Kinder erreichte. Sie stellten sie am nächsten Tag deswegen zur Rede.
»In der Stadt herrscht heller Aufruhr. Die Priester suchen nach einer Zauberin«, sagte ein jüngerer Knabe namens Tiro.
»Eine alte Frau. Genau wie du«, fügte ein Mädchen, Gae, hinzu.
Emerahl brummte etwas Unverständliches. »Das habe ich auch gehört. Die Priester halten jede alte Frau für eine Zauberin, vor allem dann, wenn sie ein wenig über Kräuter und dergleichen Dinge weiß.« Sie zeigte mit einem knochigen Finger auf die Kinder. »Versteht ihr, sie sind einfach eifersüchtig, weil wir mehr über Medizin wissen als sie.«
»Aber das ist doch dumm«, meinte Rayo. »Du bist alt. Du wirst bald tot sein.«
Sie sah den Jungen tadelnd an. »Vielen Dank, dass du mich daran erinnerst.« Dann seufzte sie. »Es ist dumm. Wie du sagtest, was können wir schon tun, hm? Nichts. Wir können uns lediglich damit abfinden, dass sie uns drangsalieren.«
»Das machen sie mit dir?«, fragte Tiro.
Sie nickte seufzend, dann zeigte sie auf einen Riss in der Naht ihres Kapas. »Ich habe mir einen schönen Zeitpunkt ausgesucht, um aus meinem Haus vertrieben zu werden, nicht wahr?«
»Dann bist du also nicht diese Zauberin. Dir kann nichts passieren«, versicherte Gae ihr. Emerahl bedachte das Mädchen mit einem traurigen Blick. »Das hängt davon ab, ob sie finden, wonach sie suchen. Wenn nicht, werden sie uns anderen einfach weiter das Leben schwermachen. Oder sie könnten sich eine andere Frau suchen und ihr die Schuld zuschieben, statt einzugestehen, dass sie diejenige, auf die sie Jagd machen sollten, verloren haben.«
»Das werden wir nicht zulassen«, erklärte Rayo entschieden.
Sie lächelte. »Ihr seid wirklich zu gut zu mir, mich hier wohnen zu lassen.«
Den Kindern schien es nichts auszumachen, dass aus den wenigen Tagen, die sie ursprünglich hatte bleiben wollen, schließlich eine Woche und dann zwei wurden. Sie gab ihnen Dinge aus ihrem Beutel, die sie verkaufen konnten. Sie brachten Essen mit nach Hause und sogar einen kleinen Krug billigen Feuerwassers, und gelegentlich spionierten sie den Priestern nach.
»Ich hab zwei von ihnen belauscht«, erzählte Tiro ihr eines Abends atemlos. »Sie haben von dem Hohepriester geredet, der die Suche leitet. Ikaro ist sein Name. Sie sagten, er stehe in Verbindung mit den Göttern, und die hätten ihm die Fähigkeit gegeben, Gedanken zu lesen.«
»Also haben sie sie noch nicht gefunden?«, fragte sie. »Ich glaube nicht.«
Emerahl seufzte, aber ihre Bestürzung galt eher der Enthüllung der Fähigkeiten ihrer Verfolger.
Natürlich war es möglich, dass die Leute, die Tiro belauscht hatte, solche Ehrfurcht vor dem Hohepriester hatten, dass sie jedes Gerücht glaubten, von dem sie hörten. Emerahl konnte es jedoch nicht riskieren, die Angelegenheit auf die leichte Schulter zu nehmen. Kein Priester, der versuchte, ihre Gedanken zu lesen, würde etwas sehen können. Es bedurfte beträchtlicher magischer Fähigkeiten, den eigenen Geist zu verbergen. Vielleicht wusste der Hohepriester das nicht, aber sie hatte nicht die Absicht, es herauszufinden.
Den Kindern zufolge wurde jeder, der die Stadt mit einem Boot, einem Tarn, einem Plattan oder zu Fuß verließ, von Priestern beobachtet. Selbst die geheimen Wege der Unterwelt standen unter Beobachtung. Alle alten Frauen wurden zur Überprüfung dem Hohepriester vorgeführt. Die Zirkler verwandten viel Mühe darauf, sie zu finden. Wenn sie erraten hatten, wer sie war, würden die Götter durch die Augen sämtlicher Priester blicken und nach ihr Ausschau halten. Und wenn sie sie fanden...