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»Dann geh und sieh nach«, befahl Rayo Tiro, worauf dieser mit zwei anderen Jungen davoneilte.

Rayo ging in die Hocke und griff nach der Hand der alten Frau. Sie war kalt und steif.

»Ich danke dir, Emeria. Du hast meine Schwester und mich gesund gemacht, und du warst sehr freigebig. Wir werden dir deine Kiste besorgen, falls sie noch immer in der Grube liegt. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn wir dein Geld und die anderen Sachen nehmen. Du wirst diese Dinge nicht mehr brauchen, jetzt, wo du bei den Göttern bist.«

Die anderen nickten. Rayo zeichnete einen Kreis auf die Stirn der alten Frau, dann stand er auf. Die Jungen würden vielleicht Hilfe brauchen, wenn die Kiste in der Grube groß genug war, um sie als Sarg zu benutzen. Außerdem musste ein Loch gegraben werden, und das würde viel Zeit und Kraft kosten. Er sah seine Schwester an.

»Nimm ihre Sachen«, sagte er. Sie nickte und machte sich an die Arbeit.

Eine Stunde später lag Emerias Leichnam in der Kiste. Seine Schwester und die anderen Mädchen waren in die Hügel hinaufgegangen, um Blumen zu pflücken. Bis auf das abgetragene Unterkleid der Frau hatten sie Emerias gesamten Besitz an sich genommen, aber durch die Blumen, die über ihren Körper verstreut waren, wirkte alles sehr würdig und respektvoll.

Sie sprachen einige schnelle, tränenreiche Abschiedsworte, dann deckten sie die Kiste mit einigen verkohlten Holzbrettern zu, die sie aus dem abgebrannten Haus hatten, unter dem sie lebten. Rayo und die anderen Jungen gruben in dem kleinen Garten hinter dem Haus ein Loch. Der Boden war hart, und als sie fertig waren, war es bereits dunkel. Schließlich kehrten sie ins Haus zurück, trugen die Kiste nach draußen und ließen sie in das Loch hinunter.

Als nur noch ein kleiner Erdhügel übrig war, verteilten sie einige weitere Blumen, dann gingen sie wieder in ihren Keller hinunter. Alle waren schweigsam und in sich gekehrt.

»Wo sind ihre Sachen?«, fragte Rayo seine Schwester.

Als das Mädchen einen Stapel Kleider und Emerias Beutel in der Mitte des Raums ausbreitete, versammelten sich die anderen um sie herum. Nachdem sie den Beutel geöffnet hatte, wehte ihnen ein unverkennbar fischiger Geruch entgegen, und sie verzogen das Gesicht.

Das Mädchen sortierte mit großer Sorgfalt den Inhalt des Beutels.

»Das sind Heilmittel. Emeria hat mir erklärt, wozu sie gut sind und wie man sie benutzt. Von diesen hier meinte sie, dass sie sie verkaufen würde, weil sie im Grunde zu nichts gut seien, aber manche Leute glauben wohl, dass sie dadurch mehr Spaß am Sex hätten, so dass die Sachen tatsächlich eine Menge wert sein dürften.«

»Die können wir verkaufen«, meinte Rayo.

Sie nickte. Als Nächstes zog sie eine kleine Ledertasche hervor und kippte ihren Inhalt auf den Boden. Beim Anblick des kleinen Häufchens Münzen, das sich aus der Tasche ergoss, grinsten die anderen.

»Das Geld hat sie immer am Körper getragen. Ihr geheimer Schatz.«

»Unser geheimer Schatz«, sagte Rayo. »Wir werden gerecht teilen, und jeder soll etwas bekommen. Am besten, wir fangen mit den Kleidern an. Ich nehme das Kapas. Wer will die Tunika?«

Während sie Emerias Habe unter sich aufteilten, hatte Rayo nicht das Gefühl, etwas Unrechtes zu tun. Emeria hatte nicht viel Zeit bei ihnen verbracht, aber solange ein jeder von ihnen etwas von ihr besaß, würde es ein wenig so sein, als sei sie noch bei ihnen.

Ich hoffe, sie ist glücklich, dort oben bei den Göttern, dachte er. Ich hoffe, sie wissen, dass sie den besten Teil von ihr bekommen haben.

16

Obwohl die Morgenluft mit jedem Tag kälter wurde, hatte Leiard sich dafür entschieden, Jayims Unterricht auf dem Dachgarten über dem Haus der Bäckers abzuhalten. Es hatte eine Weile gedauert und einer gewissen Beharrlichkeit bedurft, Tanara dazu zu bringen, sie nicht zu stören. Anfänglich hatte sie geglaubt, dass sie ihnen heiße Getränke bringen konnte, ohne die Lektionen zu unterbrechen, sofern sie dabei nicht sprach. Leiard hatte ihr energisch erklärt, dass ihre Gegenwart ihre Konzentration störe und sie sich von ihnen fernhalten müsse. Danach hatte sie sich etwa stündlich die Treppe hinauf geschlichen und zu ihnen hinübergespäht, und zuerst hatte sie es nicht glauben wollen, als er ihr erklärt hatte, dass auch dies eine Störung sei. Er war nicht davon überzeugt, dass er sie endgültig von ihrem Tun abgebracht hatte. Um sicherzugehen, hatte er sich eingeprägt, in welchen Zeitabständen Jayims Mutter heraufkam, und seine Lektionen entsprechend eingerichtet. Es war von größter Wichtigkeit, dass sie an diesem Morgen ungestört blieben, da er beabsichtigte, Jayim in die Feinheiten der Vernetzung einzuführen.

Als Leiard nun die Augen öffnete, betrachtete er seinen neuen Schüler. Jayims Brust hob und senkte sich in dem langsamen, regelmäßigen Rhythmus der Trance. Von dem früheren Widerstreben des Jungen, die geistigen Fähigkeiten der Traumweber zu erlernen, war noch immer etwas verblieben, aber Leiard hatte auch nicht erwartet, dass alle Zweifel sich über Nacht zerstreuen würden. Davon abgesehen war Jayim aufmerksam und fleißig. Seine Leidenschaft galt den Medizinen und der Heilkunst, und auf diesen Gebieten machte er gute Fortschritte.

Das war mit ein Grund, warum Leiard beschlossen hatte, heute mit ihm eine Gedankenvernetzung durchzuführen: Er wollte sehen, ob sie feststellen konnten, welchen Ursprung Jayims Abneigung gegen die Entwicklung seiner telepathischen Fähigkeiten hatte. Außerdem gab es noch einen anderen Grund, warum Leiard diese Aufgabe angehen wollte: Er wollte sich seiner Kontrolle über die Netzerinnerungen versichern, die seine eigene Identität überlappten. Er war sich nicht sicher, was mit ihm geschehen würde, wenn er es nicht tat. Würde das Gefühl für sein eigenes Ich weiterhin schwächer werden? Würden seine Gedanken zu einem einzigen Wirrwarr widersprüchlicher Erinnerungen werden? Oder würde er anfangen zu glauben, er sei Mirar?

Er hatte nicht die Absicht, das herauszufinden. Also schloss er die Augen wieder und streckte die Hände aus.

»Wir kommen heute Abend in Frieden zusammen und auf der Suche nach Verstehen. Unsere Gedanken sollen vernetzt werden. Unsere Erinnerungen werden zwischen uns hin und her fließen. Niemand soll spionieren oder einem anderen seinen Willen aufdrängen. Stattdessen wollen wir eines Geistes werden. Nimm meine Hände, Jayim.«

Im nächsten Moment spürte er die schlanken Finger des Jungen in seinen. Als Jayim Leiards Geist berührte, wich er leicht zurück. Leiard hörte, wie er scharf die Luft einsog. Zuerst nahm er nur ein Gefühl der Erwartung wahr. Leiard spürte die Nervosität seines Schülers und wartete geduldig ab. Schon bald huschten bruchstückhafte Gedanken und Erinnerungen durch Jayims Geist. Frühere Unterrichtsstunden, sah Leiard. Verlegenheit über private Dinge kam ans Licht. Er dachte an andere Vernetzungen mit heranwachsenden Jungen und an ähnliche Geheimnisse zurück, die auf diese Weise unbeabsichtigt offenbar geworden waren.

Versuche nicht, diese Erinnerungen auszublenden, riet er Jayim. Auf diese Weise unterbrichst du die Vernetzung.

Aber ich möchte sie nicht offenbaren!, protestierte Jayim.

Dann schieb sie beiseite. Versuch es einmal mit Folgendem: Wann immer dein Geist in diese Richtung wandert, denk an etwas anderes. Wähle ein Bild über ein Thema aus, das weder angenehm noch unangenehm ist, das deine Gedanken jedoch ablenkt.

Was könnte das sein?

Ich liste in solchen Fällen die Medizinen auf, die sich bei Säuglingen als nützlich erweisen. Sofort schössen Jayim mehrere solcher Medizinen durch den Kopf. Allerdings kehrten seine Gedanken schon bald zu dem früheren Thema zurück. Funktioniert diese Art der Ablenkung immer? Meistens.

Benutzt du den gleichen Trick, um zu verhindern, andere in deine Geheimnisse einzuweihen – wie zum Beispiel jene, die Auraya dir erzählt?