Leiard lächelte.
Was bringt dich auf den Gedanken, Auraya würde mir Geheimnisse erzählen? Ich spüre, dass sie es getan hat.
Der Junge war sehr scharfsinnig. Leiard nahm eine gewisse Selbstgefälligkeit in seinem Wesen wahr.
Könnte ich dir diese Geheimnisse anvertrauen?, fragte er.
Jetzt war Jayims Neugier geweckt, und er reagierte voller Eifer. Natürlich würde er, was immer er erfuhr, für sich behalten. Er würde niemals das Risiko eingehen, Leiards Vertrauen zu verlieren. Außerdem würde Leiard bei der nächsten Gedankenvernetzung davon erfahren, falls Jayim ihn hinterging.
Dann stiegen Zweifel in ihm auf. Was war, wenn ihm versehentlich etwas herausrutschte? Was, wenn jemand ihn mit einer List dazu brachte, Geheimnisse zu verraten?
Geheimnisse bleiben besser geheim, sagte Leiard. Je mehr Menschen davon wissen, umso weniger geheim sind sie. Es ist nicht Misstrauen, das mich davon abhält, dich in diese Dinge einzuweihen, Jayim.
Du hast Auraya sehr gern, nicht wahr?
Der plötzliche Themenwechsel machte Leiard stutzig. Außerdem entfachte er eine Mischung verschiedener Gefühle in ihm.
Ja, antwortete er. Sie ist eine Freundin.
Aber er wusste, dass sie mehr als das war. Sie war das Kind, das er einst unterrichtet hatte, das Kind, das zu einer schönen, mächtigen Frau herangewachsen war...
Du denkst, dass sie schön ist, stellte Jayim fest. Seine Erheiterung wuchs. Du hast ein Auge auf sie geworfen!
Nein! Ihr Gesicht schimmerte in seinen Gedanken auf, und er spürte, wie aus der vertrauten Bewunderung, die er für sie empfand, plötzlich Sehnsucht wurde. Erschrocken zog er sich aus Jayims Geist zurück und brach die Vernetzung ab. Der Junge sagte nichts. Wieder nahm Leiard Selbstgefälligkeit wahr. Er ignorierte sie.
Ich begehre Auraya nicht als Frau, sagte er sich.
Ich fürchte, genau das tust du, widersprach eine andere Stimme in seinen Gedanken.
Aber sie ist jung.
So jung nun auch wieder nicht.
Sie ist eine Weiße.
Ein Grund mehr, sie zu begehren. Der Reiz des Verbotenen ist eine mächtige Kraft.
Nein. Jayim hat mir diesen Gedanken in den Kopf gesetzt. Es ist nicht wahr, dass ich sie begehre.
Wenn ich Auraya das nächste Mal begegne, werde ich genauso für sie empfinden, wie ich es zuvor getan habe. Wir werden sehen.
Als Leiard die Augen aufschlug, bemerkte er, dass Jayim ihn erwartungsvoll beobachtete.
»Dein Geheimnis ist meins«, sagte der Junge.
»Es gibt kein Geheimnis«, entgegnete Leiard energisch. »Du hast mir einen Gedanken nahegelegt, den ich zuvor nie erwogen habe. Jetzt habe ich es getan, und ich glaube, dass du dich irrst.«
Der Junge wandte den Blick ab und nickte, aber es war offensichtlich, dass er ein Lächeln verbarg. Leiard seufzte.
»Warum gehst du nicht zu deiner Mutter hinunter und holst uns etwas Heißes zu trinken? Wir werden eine Pause machen und dann von neuem beginnen.«
Jayim stand auf, und Leiard sah ihm nach, als er davoneilte.
Es heißt, wer einen Schüler unterrichte, werde auch selbst unterrichtet. Ich hoffe nur, dass Jayims Lektion sich als Irrtum erweist.
Wenn ich gewusst hätte, wie bald die nächste Zusammenkunft stattfindet, dachte Tryss, hätte ich Drilli niemals dieses Versprechen gegeben.
Am Morgen nach dem Trei-Trei hatten die Sprecher erklärt, dass in vier Tagen eine Versammlung stattfinden werde. Drilli glaubte, dass die Sprecher sie alle vor den Vögeln warnen wollten, womit sie vermutlich richtig lag. Auf diese Weise blieb ihm jedoch nur wenig Zeit, sich auf die Vorführung seines Geschirrs vorzubereiten. Jetzt, da der Tag der Versammlung gekommen war, fielen ihm tausend Dinge ein, die noch getan werden mussten, und tausend weitere, die schiefgehen konnten.
Er hatte alles getan, was er in der kurzen Zeit hatte tun können. Er hatte sich jeden Tag in der Benutzung des Geschirrs und des Blasrohrs geübt, war seinen Pflichten daheim ausgewichen und hatte die Schelte dafür ertragen. Der Missbilligung seines Vaters fehlte es jedoch an echter Überzeugung, da Tryss jeden Tag Fleisch für ihr Abendessen mitbrachte.
Allerdings konnte er nicht alle Tiere mitbringen, die er getötet hatte. Damit hätte er zu früh zu große Aufmerksamkeit erregt. Obwohl es ihm gelungen war, ein weiteres Yern zu erlegen, hatte er es nicht gewagt, das Fleisch eines so großen Tieres nach Hause mitzunehmen. Ihm war nichts anderes übrig geblieben, als es den Aasfressern zu überlassen, was den Jubel über seinen Erfolg gedämpft hatte.
Um sein Geschirr vorzuführen, konnte er jedoch kein Yern erlegen. Die Tiere waren zu groß, um sie zu fangen und ins Dorf zu transportieren. Drilli hatte Brems vorgeschlagen. Sie waren klein, schnell und menschenscheu, was bedeutete, dass sie wahrscheinlich innerhalb des Halbkreises der versammelten Siyee bleiben würden, aber sie stellten dennoch eine ausreichende Herausforderung dar, so dass es die meisten Leute durchaus beeindrucken würde, wenn er sie mit Wurfgeschossen aus der Luft tötete.
Drilli hatte jeden Tag mehrere Brems gefangen, damit Tryss seine Jagdkünste an ihnen erproben konnte. Außerdem hatte sie das Geschirr mit leuchtend bunten Farben bemalt, so dass man es auch aus der Ferne sehen konnte. Er fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, bei einer Versammlung allein im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, aber seit Drilli ihn darauf hingewiesen hatte, dass die Farbe die allgemeine Aufmerksamkeit eher auf das Geschirr als auf ihn lenken würde, fühlte er sich ein wenig besser.
Er hatte das Geschirr am Morgen aus der Höhle, in der er es versteckt hatte, geholt und in die Laube seiner Familie gebracht, wo es nun in einem großen Sack aus Fadenreisig verborgen lag. Auf Drillis Drängen hin hatte er seinen Eltern erklärt, was es war, und auch hinzugefügt, dass er es am Abend bei der Versammlung vorführen würde. Seine Eltern hatten unterschiedlich auf seine Enthüllung reagiert. Seine Mutter wollte nicht einsehen, warum gewöhnliche Jagdmethoden nicht gut genug waren, aber dennoch erfüllte der Gedanke, dass ihr Sohn seine Idee bei der Versammlung vorstellen würde, sie mit einiger Aufregung. Sein Vater war dagegen sehr beeindruckt von der Erfindung gewesen, hatte aber Angst, dass Tryss sich – und seine Familie – zum Narren machen würde.
Und genau das wird vermutlich geschehen, dachte Tryss gequält.
Er war bereit, dieses Pusiko auf sich zu nehmen. Es war fast alles vorbereitet, so dass er nicht mehr zurückkonnte, was er jedoch ohnehin nicht gewollt hätte. Obwohl ihm die Vorstellung Angst machte, seine Erfindung vorzuführen, war Drillis Vertrauen in ihn doch ansteckend. Wann immer ihm Zweifel kamen, war sie voller Gewissheit. Er war bereit. Jetzt brauchte er nur noch die Sprecher um ein wenig Zeit zu bitten, um vor die Siyee hintreten zu dürfen.
Damit hatte er bis zum letzten Augenblick gewartet. Sobald er seine Bitte aussprach, würde sich die Nachricht verbreiten, dass er ein selbstgebautes Jagdgerät vorführen wollte. Und dann würden ihn nicht nur seine Vettern mit Fragen und Spott plagen. Die Sonne stand bereits tief am Himmel, als er sich der Sprecherlaube näherte. Die Anführer der Siyee standen am Eingang, und mehrere von ihnen warfen ihm argwöhnische Blicke zu.
Mit rasendem Herzen und vor Nervosität flatterndem Magen fragte er: »Dürfte ich das Wort an Sprecherin Sirri richten?« Er spähte durch den Eingang der Laube, konnte aber in der Dunkelheit dahinter nichts erkennen. Dann bewegte sich ein Schatten in der Öffnung, und Sprecherin Sirri trat heraus.
»Tryss. Wir haben noch viele wichtige Dinge zu bereden, bevor die Versammlung beginnt. Kann das nicht bis morgen warten?«