Dyara nickte. »Bei eurer Rückkehr werdet ihr derartige Vorsichtsmaßnahmen nicht brauchen. Auraya wird nicht zulassen, dass euch ein Leid widerfährt.«
»Dafür sind wir sehr dankbar. Mir scheint, dass die Götter dieser Allianz gewogen sein müssen, sonst hätten sie niemals einem von euch die Macht gegeben, dem Sog der Erde zu widerstehen.«
Auraya lächelte. Die beiden Siyee bezeichneten ihre Gabe nicht als »fliegen«. Sie sahen keine Ähnlichkeit zwischen der Benutzung von Magie und dem Reiten der Winde. Dennoch glaubten sie, dass gerade sie von allen Landgehern das Volk von Si am besten verstand. Die Fähigkeit zu fliegen machte einen Großteil dessen aus, was sie waren, sowohl körperlich wie auch kulturell.
Als Zeeriz gähnte, warf sie Juran einen vielsagenden Blick zu.
Unsere Gäste sind an ihre Grenzen gestoßen, erklärte Auraya dem Anführer der Weißen. Ich denke, du hast recht.
Juran richtete sich auf, dann räusperte er sich. Aller Augen wandten sich ihm zu.
»Ich würde gern ein Gebet sprechen«, sagte er. »Und unseren Gästen ein letztes Mal eine gute Reise wünschen, bevor wir uns zurückziehen.« Er hielt inne und schloss die Augen. »Chaia, Huan, Lore, Yranna, Saru. Wir danken euch für alles, was ihr getan habt, um uns heute Abend zusammenzuführen, auf dass wir den Ländern von Ithania Frieden und Verständnis bringen mögen. Wir bitten euch, über Tireel vom Stamm des Grünen Sees zu wachen und über Zeeriz vom Stamm des Gegabelten Flusses sowie über Auraya von den Weißen, während sie sich auf den Weg in das Land von Si machen. Möget ihr sie leiten und beschützen.«
Er öffnete die Augen wieder, dann griff er nach seinem Glas. Sofort eilten einige Diener herbei, um ihnen allen ein wenig Tintra nachzuschenken. Auraya musste sich ein Lächeln verkneifen, als sie Zeeriz’ erschrockene Miene sah.
»Ich wünsche euch eine sichere und angenehme Reise.« Juran blickte über den Rand seines Glases hinweg zuerst den einen Botschafter an, dann den anderen. Seine ernste Miene wich einem Lächeln. Er führte das Glas an die Lippen und nippte daran. Als die anderen seinem Beispiel folgten, bemerkte Auraya, dass Zeeriz sein Glas fast in einem einzigen Zug leerte, als wolle er die Angelegenheit möglichst schnell hinter sich bringen.
Tireel grinste. »Wir werden auf Auraya aufpassen«, versicherte er Juran.
»Man wird sie behandeln wie... wie...«, begann Zeeriz.
»Wie einen geehrten Gast«, vollendete Tireel seinen Satz.
»Ich danke euch«, sagte Juran. »Dann entlassen wir euch jetzt am besten in die Nacht, damit ihr noch ein wenig Schlaf bekommt, bevor ihr euren langen Flug antretet.«
Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Auraya wandte sich zu dem Stuhl um, auf dem Zeeriz saß, und als sie ihn auf seinem Platz nicht entdecken konnte, senkte sie den Blick. Sie hatte eigens hohe Stühle anfertigen lassen, damit die Siyee auf gleicher Höhe mit ihnen am Esstisch sitzen konnten. Es überraschte sie jedes Mal aufs Neue, wenn sie ihre fremdländischen Gäste am Ende eines Mahls plötzlich doch wieder überragte. Zeeriz hatte die Augen geschlossen. Er schwankte ein wenig, dann schlug er die Augen wieder auf und sah Auraya blinzelnd an.
»Es ist nicht gerecht, dass ihr Landgeher so viel trinken könnt«, murmelte er. Sie kicherte. »Ich bringe dich zu deinem Quartier zurück.«
Er nickte und ließ sich von ihr in den Flur hinausführen. Sie hörte, dass Dyara und Tireel, die sich noch immer miteinander unterhielten, ihnen folgten. Die Botschafter wohnten in einem der mittleren Geschosse des Turms in der Nähe des Speisesaals. Auraya und Dyara wünschten ihren Gästen eine gute Nacht, dann machten sie sich auf den Weg in ihre eigenen Räume. Als sie die große Treppe erreichten, warf Dyara Auraya einen nachdenklichen Blick zu.
»Diese Reise scheint dir größere Sorgen zu machen als die letzte«, bemerkte sie. Auraya sah Dyara an. »Das ist richtig«, gestand sie.
»Was glaubst du, woran das liegt?«
»Ich muss es allein schaffen.«
»Du kannst dich nach wie vor mit Juran oder mir beraten«, erklärte Dyara. »Aber ich denke, es steckt noch mehr dahinter als das.«
Auraya nickte. »Vielleicht war es mir in Somrey nicht gar so wichtig, Erfolg zu haben. Es ist nicht so, als wäre es mir gleichgültig gewesen«, beeilte sie sich hinzuzufügen, »aber die Möglichkeit, bei den Siyee zu versagen und ihnen einen weiteren Grund zu geben, uns nicht zu mögen, macht mir zu schaffen. Ich nehme an, dass sie uns größeres Vertrauen entgegenbringen als die Somreyaner. Wenn ich scheitere, wird das so sein, als hätte ich ihr Vertrauen verraten.«
»Du hattest weniger Bedenken, ob du mit deinem Tun vielleicht das Vertrauen der Traumweber verrätst?«
Auraya zuckte die Achseln. »Sie haben uns von Anfang an nicht vertraut.«
»Das ist richtig«, erwiderte Dyara und blickte versonnen drein. »Aber dein Freund vertraut dir. Es war ein kühner Schritt, ihn zu deinem Ratgeber zu machen. Ich habe dieses Vorgehen seinerzeit für unklug gehalten, aber wie sich herausgestellt hat, hatte es beträchtliche Vorteile.«
Auraya sah Dyara erstaunt an. War das ein Lob? Von Dyara? Weil sie sich mit einem Traumweber befreundet hatte?
Dyara blieb an der Tür vor Aurayas Quartier stehen. »Gute Nacht, Auraya. Ich werde dich morgen noch sehen, wenn wir uns verabschieden.«
»Gute Nacht«, erwiderte Auraya. »Und... danke.«
Dyara lächelte, dann setzte sie ihren Weg die Treppe hinauf fort. Während Auraya ihre Räume betrat, dachte sie über Dyaras Worte nach.
»Aber dein Freund vertraut dir.«
Sie hatte während der letzten Tage keine Gelegenheit gehabt, mit Leiard zu sprechen. Morgen würde sie in aller Frühe aufbrechen. Es würde ihr keine Zeit bleiben, ihn ein letztes Mal zu sehen.
Dann habe ich nur noch heute Nacht die Möglichkeit, mich von ihm zu verabschieden.
Sie runzelte die Stirn. Es war spät. Zu spät, um nach ihm zu schicken. Sie konnte niemandem den Auftrag geben, ihn zu wecken und in den Turm zu bringen, nur um fünf Minuten mit ihm zusammen zu sein, bevor sie ihn wieder nach Hause schickte. Würde er wirklich etwas dagegen haben? Sie schürzte die Lippen. Was war schlimmer: ihn mitten in der Nacht hier-herzuschleppen oder ohne ein Wort des Abschieds aufzubrechen?
Mit einem Lächeln schloss sie die Augen und suchte nach dem Geist des Priesters, der unten im Turm seinen Nachtdienst versah. Nachdem sie ihm ihre Anweisungen gegeben hatte, setzte sie sich hin, um zu warten.
Morgen um diese Zeit werde ich in irgendeinem Dorftempel schlafen. Sie schaute sich im Raum um. Alles sah genauso aus wie immer. Kein Koffer stand bereit, nur ein kleines Bündel mit weißen Kleidern zum Wechseln und einigen Geschenken für die Siyee. Alles, was sie brauchte, würde sie von den Priestern und Priesterinnen der Tempel bekommen, in denen sie Quartier nahm.
Sobald sie in den Bergen war, würde es keine Tempel mehr geben. Die Siyee hatten ihr versichert, dass sie auch in ihrem Land alles Notwendige vorfinden würde. Sie würden sie mit allen Annehmlichkeiten einer zivilisierten Kultur versorgen, wie zum Beispiel Papier und Tinte, die sie selbst herstellten. Außerdem würde Auraya eine eigene »Laube« zugewiesen bekommen, um darin zu wohnen.
Schließlich stand sie auf, trat ans Fenster und blickte nach unten. Die Kuppel zeichnete sich als dunkler, von Laternen gesäumter Schemen vor dem Himmel ab. Einige Priester und Diener eilten umher. Die Stadt unter ihr war eine Ansammlung von Lichtern in einem Meer aus tiefer Schwärze.
Ein Tarn, in dem mehrere Heilerpriester saßen, fuhr in den Tempelbezirk ein. Auraya beobachtete die Ankunft zweier Plattans, dann beschleunigte sich ihr Herzschlag, als sie einen weiteren Wagen unter dem Torbogen hindurchfahren sah. Nur eine einzige Person saß darin. Selbst aus dieser Höhe erkannte sie Leiard mit seinem weißen Haar und seinem ebenso weißen Bart sofort.