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Gewohnheiten ließen sich nur schwer durchbrechen. Er hatte im Laufe der Jahre gelernt, den Charakter eines Menschen auf den ersten Blick einzuschätzen, und konnte jetzt nicht damit aufhören. Als sie und Dyara auf ihn zukamen, fiel ihm auf, dass die Starrheit, mit der die neue Weiße ihre Schultern hielt, Nervosität verriet. Ihr gerader Blick und der starke Mund legten jedoch die Vermutung nahe, dass ein angeborenes Selbstbewusstsein diese Nervosität schon bald verdrängen würde. Man hatte ihm erzählt, sie sei sechsundzwanzig Jahre alt, und seine Augen bestätigten dieses Wissen, aber die Reife, die in ihren Zügen lag, sprach eine andere Sprache: Diese junge Priesterin verfügte über größeres Wissen und mehr Erfahrung in den Dingen der Welt, als sie die meisten Edelfrauen in diesem Alter besaßen.

Sie muss hart gearbeitet und schnell gelernt haben, um so früh schon Hohepriesterin zu werden, dachte er. Auch ihre Gaben müssen stark sein. Wenn sie diejenige ist, die aus diesem kleinen Dorf kommt, das die Dunweger als Geisel genommen haben, hat sie es weit gebracht.

Dyara lächelte. »Auraya, das ist Danjin Speer«, sagte sie. »Er wird dein Ratgeber sein.«

Danjin machte das formelle Zeichen des Zirkels. Auraya hatte bereits die Hände erhoben, um die Geste zu erwidern, hielt dann jedoch inne und ließ sie wieder sinken.

»Sei mir gegrüßt, Danjin Speer«, sagte sie.

»Sei mir gegrüßt, Auraya von den Weißen«, erwiderte er.

Sie klingt selbstbewusst, ging es ihm durch den Kopf. Zumindest gelingt es ihr, keine Nervosität aus ihrer Stimme klingen zu lassen. Sie braucht nur noch an ihrer Haltung zu arbeiten. Sie straffte sich und hob das Kinn. So ist es schon besser, dachte er. Dann wurde ihm klar, dass sie seine Gedanken gelesen und ihre Körperhaltung daraufhin verändert hatte. Ich werde wohl einige Zeit brauchen, um mich daran zu gewöhnen, dass jemand meine Gedanken lesen kann, überlegte er.

»Ich sehe schon, dass ihr beiden gut miteinander zurechtkommen werdet«, bemerkte Dyara und schob sie dann zu den Stühlen hinüber. »Danjin war uns in der Vergangenheit sehr nützlich. Seine Einschätzung der Situation in Toren war ausnehmend scharfsichtig und hat es uns ermöglicht, eine Allianz mit dem König zuwege zu bringen.«

Auraya musterte ihn mit echtem Interesse. »Ist das wahr?«

Er zuckte die Achseln. »Ich habe eine Weile in Toren gelebt und lediglich übermittelt, was ich in dieser Zeit erfahren habe.«

Dyara kicherte leise. »Außerdem ist er erfrischend bescheiden. Seine Kenntnisse fremder Völker werden dir von großem Nutzen sein. Er beherrscht alle Sprachen Ithanias.«

»Bis auf die der Völker von Siyee und Elai«, ergänzte er.

»Er ist ein guter Menschenkenner. Er weiß, wie man mächtigen Männern und Frauen taktvoll und ohne Anstoß zu erregen einen Rat erteilt.«

Aurayas Aufmerksamkeit galt inzwischen weniger Dyara als Danjin. Bei Dyaras letzter Bemerkung zuckten ihre Lippen.

»Wahrhaftig, eine sehr nützliche Fähigkeit«, sagte sie.

»Er wird dich begleiten, wann immer du eine Audienz abhältst. Achte auf seine Gedanken. Sie werden dich bei deinen Antworten leiten.«

Auraya nickte und warf Danjin dann einen entschuldigenden Blick zu.

»Es gehört zu Danjins Rolle als Ratgeber, dass du ständig seine Gedanken liest; dessen ist er sich vollauf bewusst«, versicherte Dyara ihr. Sie drehte sich um und lächelte Danjin an, während sie weiterhin zu Auraya sprach. »Obwohl das nicht bedeutet, dass du die Regeln des guten Benehmens ignorieren solltest, die ich dich gelehrt habe.«

»Natürlich nicht.«

»Jetzt, da ich euch miteinander bekannt gemacht habe, müssen wir uns wieder in die unteren Ebenen begeben. Der torenische König wartet darauf, dir vorgestellt zu werden.«

»Ich treffe jetzt schon Könige?«, fragte Auraya.

»Ja«, sagte Dyara entschieden. »Sie sind nach Jarime gekommen, um die Erwählung mitzuerleben. Jetzt möchten sie die Auserwählte kennenlernen. Ich wünschte, ich könnte dir mehr Zeit geben, aber das ist nicht möglich.«

»Schon gut«, sagte Auraya achselzuckend. »Ich hatte nur gehofft, mir bliebe ein wenig Zeit, mich mit meinem neuen Ratgeber vertraut zu machen, bevor ich von ihm verlange, dass er arbeitet.«

»Ihr werdet euch während der Arbeit miteinander vertraut machen.«

Auraya nickte. »Nun gut.« Sie lächelte Danjin an. »Aber ich hoffe doch, dich ein wenig besser kennenlernen zu können, wenn ich die Gelegenheit dazu habe.«

Er neigte den Kopf. »Auch ich freue mich darauf, deine Bekanntschaft zu machen, Auraya von den Weißen.«

Als die beiden Weißen sich erhoben und zur Tür gingen, folgte Danjin ihnen. Er hatte die Frau kennengelernt, für die er arbeiten würde, und nichts an ihr legte die Vermutung nahe, dass seine Rolle schwierig oder unerfreulich sein würde. Seine erste Aufgabe war jedoch eine ganz andere Angelegenheit.

Ich werde ihr bei dem Gespräch mit dem torenischen König helfen, dachte er. Nun, das wird eine Herausforderung sein.

Tryss rutschte ein wenig zur Seite, bog die Zehen um die grobe Borke des Zweigs und lockerte sie wieder. Durch das Blätterwerk des Baums nahm er eine weitere Bewegung im Unterholz wahr und blickte erwartungsvoll hinab. Aber sosehr er sich danach sehnte, sich vorzubeugen, die Flügel auszustrecken und in die Tiefe zu tauchen, verharrte er doch vollkommen reglos auf seinem Platz.

Ihn juckte die Haut, der Schweiß rann ihm über den Körper und durchnässte den aus Rohrschilf gewobenen Stoff seines Wamses und seiner Hosen. Die Membranen seiner Flügel kribbelten. Die Riemen, die er um Hüften und Hals trug, waren unbequem und beengend, und die Eisenspitzen, die an seinem Bauch hingen, fühlten sich schwer an. Zu schwer. Sie würden ihn zu Boden ziehen, sobald er zu fliegen versuchte.

Nein, sagte er sich. Kämpfe gegen deine Instinkte. Das Abwurfgeschirr wird dich nicht behindern. Es wird dich nicht hinunterziehen. Von den Eisenspitzen geht viel größere Gefahr aus. Wenn er sich damit kratzte... Seine Überlebenschancen, wenn er auf einem dünnen Zweig viele Mannshöhen über dem Boden einer Schlafdroge erlag, gefielen ihm nicht besonders.

Er versteifte sich, denn er hatte abermals eine Bewegung am Boden bemerkt. Als drei Yern auf die Lichtung unter ihm traten, hielt er den Atem an. Von oben sahen sie aus wie schmale Fässer aus braunem Fell; ihre scharfen Hörner waren zu bloßen Stummeln verkürzt. Langsam näherten sich die Tiere dem funkelnden Bach, wobei sie auf dem Weg dorthin immer wieder kurz innehielten, um Gräser abzuweiden. Tryss ließ die Hände über die Riemen und die hölzernen Stellgriffe des Geschirrs gleiten und überzeugte sich davon, dass alles richtig eingestellt war. Dann holte er ein paar Mal tief Luft und ließ sich fallen. Yern waren pflanzenfressende Herdentiere mit scharfen Sinnen, die es ihnen ermöglichten, die Position und Stimmung eines jeden Mitglieds ihrer Herde zu erspüren. Mit diesen Sinnen konnten sie auch die Gedanken anderer Tiere in der Nähe wahrnehmen und erkennen, wenn ein Angriff bevorstand. Yern waren schnelle Läufer. Die einzigen Raubtiere, denen es gelang, ein Yern zu fangen, waren jene, die den Vorteil der Überraschung nutzten oder selbst über ausgefeilte Gaben der Sinnestäuschung verfügten – wie zum Beispiel die gefürchteten Leramer -, und selbst sie konnten nur die alten und kranken Tiere der Herde fangen.

Während Tryss zu Boden fiel, sah er, wie die Yern, die das Näherkommen eines auf Angriff bedachten Geistes spürten, sich strafften. Die Tiere hielten verwirrt Ausschau und waren sich nicht sicher, in welche Richtung sie fliehen sollten. Sie verstanden nicht, dass ein Räuber auch von oben angreifen konnte. Auf halbem Weg nach unten, breitete Tryss die Arme aus und spürte, dass die Membranen seiner Flügel der Luft Widerstand boten. Er schoss aus dem Baum heraus und stieß auf seine Beute hinab.