Als ihr Hemd trocken war, stieß sie einen Seufzer aus.
»Man sollte meinen, dass ich es mit all meinen Gaben nicht nötig gehabt hätte, als Hure zu enden.« Sie sah die beiden an und errötete. »Aber ich habe gerade erst angefangen. Und ich werde es auch nicht lange tun. Nur bis ich eine Arbeit gefunden habe.«
Die beiden Männer tauschten einen Blick, dann räusperte sich der Vater. »Wie viel?«
Emerahl lächelte. »Nun, ich denke, dass zwei galante Männer, die eine Dame vor dem Ertrinken retten wollten, einen günstigen Preis bekommen sollten, meint ihr nicht auch?«
Und das, dachte sie ironisch, ist der andere Grund, warum Männer diesen Teil eines Frauenkörpers Hurenbörse nennen.
Teil 2
18
Die Welt war eine gewaltige grüne Decke, durchzogen von den Farben des Herbstes und faltig, wo die Berge durch den Stoff brachen. Flüsse glitzerten wie silberne Bänder. Hie und da fanden sich winzige Gebäude, die wie verstreute Mosaikkacheln aussahen und durch braune Straßen verbunden waren. Wenn Auraya genauer hinschaute, konnte sie eine Vielzahl kleiner Tiere erkennen – und Menschen.
Auraya wäre gern dichter am Boden geflogen, aber Zeeriz zog es trotz ihrer Anwesenheit vor, reichlich Abstand zwischen sich und den Landgehern zu halten. Ihn kostete es einige Kraft, den ganzen Tag über in der Luft zu bleiben. Das Fliegen war nicht so mühelos, wie die Siyee es gern erscheinen ließen, und wenn sie in der Abenddämmerung auf dem Boden landeten, war Zeeriz am ganzen Körper steif und wund. Ob die Reise Tireel genauso schwerfiel, konnte Auraya nicht sagen: Er war vorausgeflogen, um den Siyee die Kunde von Aurayas Kommen zu überbringen. Nach einigen Stunden verlor die Welt unter ihr ihren Reiz. Abgesehen von den bevorstehenden Verhandlungen mit den Siyee hatte sie nicht viel zu bedenken, und nach einer Weile wurde sie es müde, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Stattdessen lernte sie, die Bewegungen ihres Begleiters nachzuahmen – indem sie so tat, als hätten Wind, Geschwindigkeit und der Sog der Erde die gleiche Wirkung auf sie wie auf die Siyee. Auf diese Weise erfuhr sie mehr über die Grenzen, die ihre körperliche Gestalt ihnen auferlegte.
Außerdem hatte sie aus dem Geist des Botschafters viel über sein Volk erfahren. Sie hatte in seinen Gedanken Furcht vor Landgehern, Hoffnungen für die Zukunft und Erinnerungen an die Kindheit gelesen. Am interessantesten war der unterdrückte Groll, den er empfand, wenn er sah, wie sie seinen Flug nachahmte. Er fragte sich, warum die Götter einer Landgeherin Zugang zur Luft gewährten, ohne sie den gleichen Beschränkungen zu unterwerfen, denen die Siyee ausgesetzt waren.
Dass die Siyee die Grenzen und Konsequenzen ihrer Schöpfung überwunden hatten, war ein Quell des Stolzes für ihn. Alle Siyee lernten von klein auf, dass ihre Vorfahren Schmerz, Deformierung und den frühen Tod in Kauf genommen hatten, damit die Göttin Huan ihre Rasse erschaffen konnte. Selbst heute noch zahlten sie den Preis dafür, aber die Anzahl der verkrüppelten Säuglinge war im Laufe der Jahrhunderte zurückgegangen. Ihre Bevölkerung war langsam gewachsen. Diese Entwicklung wurde einzig durch die torenischen Siedler gefährdet.
Es muss etwas geschehen, was diese Siedler betrifft, dachte Auraya. Es würde kein leichtes Unterfangen sein. Huan hatte verfügt, dass die Berge im Osten Torens den Siyee gehören sollten. Die torenischen Siedler hatten eine eigene Deutung für den Begriff »Berge«: In ihren Augen handelte es sich dabei um alles Land, das zu steil war, um es zu bebauen, und daher hatten sie die fruchtbaren Täler und Hänge langsam in Besitz genommen. Auraya bezweifelte, dass der König von Toren über das Tun seiner Untertanen informiert war, und falls er doch davon wusste, hatte er sicher nicht die Absicht, etwas dagegen zu unternehmen.
Aber er wird es tun, wenn die Weißen darauf bestehen.
Sie lächelte grimmig. Die Siyee brauchten diese Allianz mit den Weißen. Sie wollten die Allianz, befürchteten aber, dass sie nur wenig als Gegenleistung anzubieten hatten. Sie glaubten, sie seien weder stark noch geschickt genug, um im Falle eines Krieges von Nutzen zu sein. Außerdem verfügten sie über keinerlei Schätze, mit denen sie hätten Handel treiben können. Es war Aurayas Aufgabe, etwas zu finden, das sie den Weißen für ihren Schutz anbieten konnten – oder sie einfach davon zu überzeugen, dass das wenige, was sie zu bieten hatten, sei es im Krieg, im Handel oder in der Politik, genügen würde.
Sie blickte wieder zu Zeeriz hinüber. Er sah sie an und lächelte.
Es war nur wenig über das Volk der Siyee bekannt. Auraya hatte vieles von Tireel und Zeeriz erfahren, aber wenn sie die Anführer der Siyee kennenlernen und sie in ihrem Alltag beobachten konnte, würde sie die Geflügelten viel besser zu verstehen lernen. Dass die Weißen überhaupt die Anstrengung auf sich nahmen, ein Land zu besuchen, war für seine Bewohner stets ein Grund zur Freude. Die beiden Botschafter waren überglücklich, dass Auraya sich die Zeit nahm, sich ihr Heimatland anzusehen, und sie hoffte, dass die übrigen Siyee dieses Gefühl teilen würden. Wenn alles gutging, würde es ihr während der nächsten Monate gelingen, ihren Respekt zu gewinnen und ihr Vertrauen in die Weißen zu stärken.
Als Auraya zu den dunklen Umrissen der Berge in der Ferne hinüberschaute, stieg Erregung in ihr auf. In Wahrheit freute sie sich ebenso auf den Besuch von Si, wie die Botschafter sich darüber freuten, sie dorthin begleiten zu dürfen. Sie würde einen Ort besuchen, an dem nur wenige Landgänger je gewesen waren, um Bekanntschaft mit einem einzigartigen Volk zu schließen.
Ich könnte nicht glücklicher sein.
Mit einem Mal nahm sie eine vertraute Unruhe in sich wahr. Es war kein Zweifel, der sich auf sie selbst bezog, oder Furcht vor einem Versagen. Nein, es ist der Gedanke an das Durcheinander, das ich zurückgelassen habe.
»Du hast eine interessante Art, auf Wiedersehenzu sagen«, hatte Leiard bemerkt. Die Erinnerung an zerknüllte Laken am Fußende ihres Bettes blitzte in ihr auf, dann eine Erinnerung an nackte, ineinander verschlungene Gliedmaßen. Und dann kamen verlockende frühere Erinnerungen.
Wer hätte das gedacht?, überlegte sie, außer Stande, ein Lächeln zu unterdrücken. Ich und Leiard. Eine Weiße und ein Traumweber.
Bei diesem Gedanken verblasste ihr Lächeln, und ihre Stimmung verdüsterte sich. Halbherzig widersetzte sie sich dieser Regung. Ich muss mich dem Geschehenen stellen.
Und ich muss es jetzt tun. Sobald ich nach Si komme, werde ich zu viel zu tun haben, um über die Konsequenzen nachgrübeln zu können. Seufzend stellte sie sich die Frage, der sie bisher ausgewichen war.
Wie werden die anderen Weißen reagieren, wenn sie es herausfinden?
Dyara war die Erste, die ihr in den Sinn kam. Die Frau knurrte beinahe vor Missbilligung, wann immer Leiard in der Nähe war. Dyara würde Leiard gewiss nicht ohne weiteres als Aurayas Geliebten akzeptieren. Mairae dagegen würde vielleicht keinerlei Anstoß daran nehmen, obwohl sie es wahrscheinlich lieber gesehen hätte, hätte Auraya sich nicht ausgerechnet einen Traumweber für ihr Bett erwählt. Rian würde es nicht gefallen. Er hatte nie verlangt, dass die anderen Weißen sich für Enthaltsamkeit entschieden, so wie er es getan hatte, aber die Vorstellung, dass eine aus ihrer Mitte einen Heiden in ihr Bett nahm, würde ihm gewiss missfallen.
Und Juran? Auraya runzelte die Stirn. Sie konnte nicht erraten, wie seine Reaktion ausfallen würde. Er hatte Leiard als ihren Ratgeber akzeptiert. Würde er ihn auch als ihren Geliebten dulden?
Nein, er wird mir erklären, dass das Volk es nicht akzeptieren wird. Dass es alles zerstören würde, was ich je gesagt oder getan habe, um die Toleranz den Traumwebern gegenüber zu fördern. Die Menschen werden glauben, meine Meinung sei auf Liebe gegründet – oder auf Begierde -, statt auf gesunden Menschenverstand, und sie werden sich daran erinnern, dass Mirar ein großer Verführer war. Sie werden denken, ich sei betrogen worden, und sie werden ihren Gefühlen Luft machen, indem sie Traumweber angreifen.