»Meine Großmutter pflegte zu sagen, dass Menschen immer Laster haben werden und man geradeso gut davon profitieren könne.« Er runzelte die Stirn. »Mein Vater ist das genaue Gegenteil. Sehr moralisch. Ihn würde es abstoßen, mich jetzt zu sehen. Er hat unser Geld von ihren unmoralischen Geschäften‹ genommen und alles in die östlichen Berge gesteckt. Wir haben ein Vermögen mit seltenen Hölzern und Bergwerken verdient.«
Plötzlich verstand sie, was vorging. Er war die Art Freier, die gern redete. Nun, er hatte tatsächlich etwas von anregenden Gesprächen gesagt. Es konnte nicht schaden, wenn sie ihm den Gefallen tat. Auf diese Weise würde sie vielleicht etwas erfahren – und wenn sie sich als gute Zuhörerin erwies, bestand immerhin die Möglichkeit, dass er ihre Dienste regelmäßig in Anspruch nehmen würde.
»Das klingt so, als hätte er die richtige Entscheidung getroffen«, bemerkte sie. Der Mann verzog das Gesicht. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Durch die Durchsuchungen an den Toren wird der Verkehr aufgehalten, und wir haben dadurch Kundschaft verloren. Ich weiß nicht, warum sie sich diese Mühe machen. Wenn ein Priester mit der Gabe, Gedanken zu lesen, diese Zauberin nicht finden kann, wer sollte dann dazu in der Lage sein? Jetzt gehen Gerüchte um, dass die Weißen sich mit den Siyee verbünden werden, die Anspruch auf das Land erheben, das sich in unserem Besitz befindet.«
»Die Weißen?«
»Ja. Die Siyee haben Botschafter zum Weißen Turm geschickt. Anscheinend ist eine der Weißen zu einem Besuch in Si aufgebrochen. Die Jüngste von ihnen. Ich schätze, es besteht wenig Hoffnung, dass sie die Angelegenheit aus Unerfahrenheit verpfuschen wird.«
Emerahl schüttelte den Kopf. »Wer sind die Weißen?«
Er starrte sie an. »Das weißt du nicht? Wie ist es möglich, dass du das nicht weißt?«
Etwas in seinem Tonfall sagte ihr, dass sie Unkenntnis in einer Angelegenheit bewiesen hatte, über die alle anderen Menschen genau Bescheid wussten. Sie zuckte die Achseln.
»Meine Heimat ist sehr weit von hier entfernt. Wir hatten nicht einmal einen Priester.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Aha. Kein Wunder, dass du weggelaufen bist.«
Weggelaufen? Das hatte sie nicht gesagt, aber vielleicht hatte er gespürt, dass sie log, und den Grund dafür erraten. Es war eine durchaus glaubwürdige Geschichte, wenn ein Straßenmädchen behauptete, weggelaufen zu sein.
»Die Weißen sind die höchsten Priester und Priesterinnen der Zirkler«, erklärte er. »Die Auserwählten der Götter. Juran ist der Erste, dann kommen Dyara, Mairae, Rian und jetzt Auraya.«
»Ah, die Auserwählten der Götter.« Emerahl hoffte, dass es ihr gelungen war, ihr Erschrecken zu verbergen. Wie war es möglich, dass Juran noch lebte? Die Antwort lag auf der Hand. Weil die Götter es so wollen. Sie nickte unmerklich. Höchstwahrscheinlich waren auch diese anderen Weißen recht langlebig. Und was war dieser Weiße Turm? Plötzlich fiel ihr der Traum von dem Turm ein, der ihr noch immer gelegentlich zu schaffen machte. War dies der Turm, von dem der Mann gesprochen hatte?
»Du siehst aus, als... Ergibt das einen Sinn für dich?« Sie betrachtete den Mann an ihrer Seite und nickte. »Ja, deine Worte haben meinem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen. Meine Oma hat mir etwas Derartiges beigebracht, aber ich hatte das meiste davon wieder vergessen.« Sie sah ihn an. »Kannst du mir mehr darüber erzählen?«
Er lächelte, dann schüttelte er traurig den Kopf. »Ich muss nach Hause zurückkehren. Aber zuerst werde ich dich wieder zu deinem Quartier bringen.« Er rief dem Fahrer seine Anweisungen zu, und der Plattan fuhr schneller. Nach einigen Minuten blieb der Wagen stehen.
Der Mann griff in seine Tunika, zog eine Börse hervor und zählte leise einige kleine Kupfermünzen ab. »Fünfzig Ren«, sagte er und gab ihr das Geld. Sie zögerte. »Aber...«
»Ich weiß. Wir hatten uns auf vierzig geeinigt. Aber du bist mehr wert, Emmea.«
Sie lächelte, dann beugte sie sich impulsiv vor und küsste ihn auf die Lippen. Ein Leuchten flammte in seinen Augen auf, und sie spürte seine Hand auf ihrer Taille, bevor sie aus dem Plattan stieg.
Er wird zurückkommen, dachte sie mit großer Zuversicht. Ich wusste, dass ich nicht lange hier sein würde.
Sie bemerkte, dass die Zwillinge verschwunden waren, und drehte sich noch einmal um, um dem Plattan nachzuwinken. Dann, nachdem sie die fünfzig Ren in ihrer Börse verstaut hatte, eilte sie die Gasse hinunter zu ihrem Quartier.
Tryss wachte während der Nacht mehrmals auf, doch jedes Mal sah er nur Dunkelheit. Zu guter Letzt blinzelte er sich den Schlaf aus den Augen, gerade als das erste bleiche Licht der Morgendämmerung durch die Wände der Laube seiner Eltern drang. Er stand auf, zog sich leise an und schnallte sich seine Werkzeuge um die Taille. Im Hinausgehen griff er rasch nach einem Stück Brot, und als er das Offene Dorf erreicht hatte, war nur noch die verbrannte Kruste übrig, die er wegwarf. Er reckte sich und wärmte sich sorgfältig auf. Wenn er heute sein neues Geschirr erproben wollte, durften keine Muskelkrämpfe seine Bewegungen behindern. Während er die verschiedenen Übungen durchlief, blickte er zum Nordrand des Dorfes hinüber, aber die Laube der Weißen Priesterin lag in den Schatten der Bäume verborgen.
Die Anwesenheit der Landgeherin hatte unter den Siyee Erregung und Argwohn wachgerufen. Alle sprachen über die Frau und die Allianz, die sie ihnen anbot. Tryss war des Themas herzlich müde, vor allem, da die Leute, die die größte Faszination für diese Auserwählte der Götter zeigten, jene waren, die am lautesten gespottet hatten, als sie von seinem Geschirr erfuhren. Die Leute, die nicht glaubten, dass die Siyee den Weißen als Gegenleistung für ihren Schutz irgendetwas anzubieten hatten.
Das liegt daran, dass sie die Dümmsten von uns sind, hatte Drilli bemerkt, als er ihr diese Beobachtung mitgeteilt hatte.
Er lächelte bei der Erinnerung an ihr Gespräch, dann sprang er in die Höhe. Kalter Wind strich ihm übers Gesicht und über die Membran seiner Flügel. Der Winter kam immer näher. Schon bestäubte der erste Schnee die höchsten Gipfel. Viele der Bäume im Wald hatten ihre Blätter verloren, so dass die Tiere, auf die er Jagd zu machen gedachte, umso deutlicher zu sehen waren.
Meine Familie wird in diesem Jahr nicht hungern, sagte er sich.
Er brauchte eine Stunde, um die Höhle zu erreichen, in der er sein neues Geschirr jetzt verwahrte. Er war einen Umweg geflogen, von dem er hoffte, dass er jeden etwaigen Verfolger verwirren würde. Seine Vettern waren immer noch voller Häme über ihre gehässige Tat, aber keiner von beiden hatte ihn seither gequält. Sein Vater hatte etwas darüber gesagt, dass die beiden mit einer Aufgabe beschäftigt seien, die Sprecherin Sirri ihnen zugewiesen habe.
Nachdem er vor der Höhle gelandet war, eilte Tryss hinein. Wann immer er die Höhle aufsuchte und feststellte, dass seine Erfindung unversehrt war, überkam ihn eine Welle der Erleichterung.
Doch diesmal war es anders. Neben dem Geschirr stand jemand. Tryss erstarrte vor Schreck, dann verspürte er eine Mischung aus Erleichterung und Furcht, als er Sprecherin Sirri erkannte.
Die Anführerin seines Stammes lächelte ihn an. »Ist es fertig?«
Tryss blickte zu dem Geschirr hinüber. »Fast.« Das Lächeln verblasste. »Dann hast du es also noch nicht ausprobiert.« »Nein.«
Sie sah ihn nachdenklich an, dann winkte sie ihn zu sich. »Wir sollten uns setzen, Tryss. Ich möchte mit dir sprechen.«
Als Sirri sich auf den Boden hockte, trat Tryss auf die andere Seite des Geschirrs und setzte sich ebenfalls. Er beobachtete sie genau. Einen Moment lang stand ein geistesabwesender Ausdruck in ihren Augen, dann wandte sie sich zu ihm um.
»Glaubst du, dass du deine Erfindung bis morgen Abend fertig haben kannst?«
Morgen Abend sollte die große Versammlung stattfinden. Die Weiße Priesterin würde das Wort an sie richten. Tryss’ Herzschlag beschleunigte sich.