Es sieht beinahe so aus, als hätten die Pentadrianer die Nachricht, dass sie einen Krieg planen, bewusst ausgestreut, um die anderen Länder von einer Allianz mit den Weißen abzubringen, dachte sie. Dann schüttelte sie den Kopf. Das war zu raffiniert, um wahr sein zu können. Die Pentadrianer haben Si noch nicht einmal einen Besuch abgestattet. Sie haben mit nichts zu erkennen gegeben, dass sie die Siyee, die Huan huldigen, als Verbündete wollen.
Sie verlagerte ihr Gewicht noch einmal, und die Bewegung ließ ihr Schiingenbett sanft schaukeln.
Irgendwann werde ich den Siyee von dem drohenden Krieg erzählen müssen, überlegte sie.
Wenn ich den richtigen Zeitpunkt wähle, kann ich sie vielleicht trotzdem davon überzeugen, dass die Allianz für sie von Nutzen wäre. Schließlich können wir mit den Göttern auf unserer Seite nicht verlieren.
An diesem Gedanken hielt sie sich fest und konnte endlich dem Ruf des Schlafs folgen.
Auraya.
Die Stimme war nur ein Wispern in ihrem Geist. Auraya.
Diesmal war es deutlicher zu hören. Sie tauchte mit Mühe aus dem Schlaf auf und sah sich blinzelnd in dem dunklen Raum um. Er war leer, und als sie nach Geistern in ihrer Nähe suchte, konnte sie keinen entdecken. War die Stimme ein Gedankenruf gewesen?
Nein, es fühlte sich so an wie ein Traum, befand sie. Ich werde wohl geträumt haben, dass jemand nach mir gerufen hat. Sie schloss die Augen. Die Zeit dehnte sich, und sie vergaß den Traum.
Auraya.
Sie spürte, wie sie langsam aus dem Schlummer auftauchte, geradeso, als triebe man der Oberfläche von Wasser entgegen. Der Geist des Besuchers verblasste in ihrem Bewusstsein. Sie schlug die Augen auf, machte sich aber nicht die Mühe, nach dem Sprecher Ausschau zu halten. Er war auf den Traum begrenzt.
Er? Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Wer sonst als Leiard würde in einem Traum nach ihr rufen?
Mit einem Mal war Auraya hellwach, und ihr Herz raste. Soll ich antworten? Wenn ich es täte, wäre das dann eine Traumvernetzung? Traumvernetzungen sind ein Verbrechen.
Genauso wie es ein Verbrechen ist, die Dienste eines Traumwebers in Anspruch zu nehmen, dachte sie. Ein lächerliches Gesetz. Ich will wissen, wie sich eine Traumvernetzung anfühlt.
Welche Methode wäre da besser geeignet, als mich einer solchen Vernetzung anzuschließen?
Aber wenn ich an einer Traumvernetzung teilnehme, werde ich ein Gesetz brechen. Und er wird es ebenfalls tun.
Es ist nicht so, als wäre ich ein hilfloses Opfer. Ich könnte jederzeit dafür sorgen, dass er aufhört.
Oder könnte ich das vielleicht nicht?
Eine Weile lag sie wach da. Ein Teil von ihr sehnte sich danach, mit Leiard zu sprechen, aber ein anderer Teil zögerte. Selbst wenn sie es gewollt hätte, jetzt war sie einfach zu wach – sie bezweifelte, dass sie ohne weiteres wieder einschlafen würde. Einige Zeit später hörte sie ihren Namen rufen und wusste gleichzeitig, dass es ihr doch gelungen war, einzuschlafen, und dass sie mit Leiard reden musste.
Leiard?, fragte sie.
Das Bewusstsein einer anderen Person wurde stärker, floss um sie herum wie dichter, süßer Rauch. Es war Leiard, und in gewisser Weise war er es doch nicht. Es war der Mann, auf den sie während ihrer letzten Nacht in Jarime einen flüchtigen Blick erhascht hatte. Der warmherzige, leidenschaftliche Mann, der unter dem würdevollen Äußeren des Traumwebers verborgen war.
In diesem Zustand kann ich nichts anderes sein als ich selbst, erklärte er ihr.
Ebenso wenig wie ich etwas anderes sein könnte, vermute ich, erwiderte sie.
Nein. Hier kannst du die Wahrheit zeigen oder sie verbergen, aber lügen kannst du nicht.
Dann ist dies also eine Traumvernetzung? So ist es. Verzeihst du mir das? Ich hatte nur den Wunsch, auf irgendeine Weise mit dir zusammen zu sein. Ich verzeihe dir. Aber verzeihst du mir? Wofür?
Für jene Nacht, in der wir...
Erinnerungen blitzten durch ihre Gedanken, lebhafter noch, als sie es taten, wenn sie wach war. Sie sah nicht nur ihre Gliedmaßen ineinander verwoben, sondern spürte auch die Berührung von Haut auf Haut. Von Leiard kamen Erheiterung und tiefe Zuneigung. Was gäbe es da zu verzeihen?
Weitere Erinnerungen schlugen über ihr zusammen, diesmal von einer anderen Perspektive betrachtet. Was dies enthüllte, war verblüffend. Die Lust aus seiner Perspektive zu erleben...
Wir wollten es beide. Ich denke, das war klar, sagte er. Was geschieht hier?, fragte sie. Diese Erinnerungen sind so lebendig.
Das sind sie im Traum immer. Ich kann berühren, schmecken...
Träume sind sehr machtvoll. Sie können den Trauernden Trostgeben, den Schwachen Zuversicht... Dem Missetäter Gerechtigkeit?
Früher einmal, ja, hatten Träume diese Aufgabe. Heute ist das nicht mehr so. Traumvernetzungen ermöglichen es Liebenden noch immer, zusammenzukommen, wenn sie voneinander getrennt sind. Sie sind für die Traumweber die Alternative zu dem Priesterring.
Ich hätte dir einen Ring gegeben, aber ich dachte, dass du ihn nicht annehmen würdest.
Nimmst du dies hier an? Wir brechen ein Gesetz. Sie hielt inne.
Ja. Wir müssen reden. Was wir getan haben – so wunderschön es auch war -, wird Konsequenzen haben. Ich weiß.
Ich hätte dich nicht einladen dürfen.
Ich hätte deine Einladung nicht annehmen dürfen.
Nicht dass ich es bedauere.
Ich ebenso wenig.
Aber wenn die Leute es herausfinden ...Es würde mir nicht gefallen, wenn dies zu deinem Schaden wäre – oder dem deiner Leute.
Mir auch nicht.
Sie zögerte, dann zwang sie sich zu sagen, was gesagt werden musste.
Wir werden es nicht wieder tun. Nein.
Für eine Weile schwiegen sie beide.
Du hast recht, sagte sie. Wir können an diesem Ort nicht lügen.
Er streckte die Hand aus, um ihr Gesicht zu berühren.
Aber wir können wir selbst sein.
Sie erschauerte unter seiner Berührung. Sie weckte so viele Erinnerungen.
Ich wünschte, du wärst hier.
Das tue ich auch. Aber zumindest in einer Form bin ich bei dir.
Wie ich schon sagte, Erinnerungen sind im Traumzustand lebendiger. Gibt es irgendwelche Erinnerungen, die du gern noch einmal durchleben würdest?
Sie lächelte.
Die eine oder andere.
22
Die Sonne war eine leuchtende Kugel, deren Licht durch den Nebel, der die Stadt einhüllte, weicher erschien. Die wenigen Menschen, die unterwegs waren, zögerten, bevor sie an Leiard vorbeigingen; zweifellos fragten sie sich, was ein Traumweber an einem solchen Morgen in den Docks tat.
Was er tat, war einfach: Er dachte nach. Er erinnerte sich an Träume, in denen er sich erinnerte... und fühlte sich schuldig deswegen.
Er hatte vor einigen Tagen beschlossen, dass er nicht versuchen würde, Auraya in ihren Träumen zu erreichen, aber in der vergangenen Nacht hatte sein Unterbewusstsein etwas anderes beschlossen. Als er begriffen hatte, was er tat, war es bereits zu spät gewesen. Sie hatte ihm geantwortet.