»Mager«, erklärte Rozea. »Gute Knochen. Mit guten Knochen kann ich immer etwas anfangen. Keine Narben... was ist deine natürliche Haarfarbe?« »Rot.«
»Warum färbst du dir dann die Haare?«
»Um sie röter zu machen. Damit ich auffalle.«
»Es sieht billig aus. Mein Etablissement ist nicht billig. Meine Mädchen dürfen sich das Haar in einem natürlichen Ton nachfärben. Hatten irgendwelche von deinen Kunden Krankheiten?«
»Nein.«
»Und du?«
»Nein.«
»Gut. Zieh dich an.«
Emerahl ging zu dem Stuhl, über den sie ihre grüne Tunika gehängt hatte, nachdem sie sie in der vergangenen Nacht gewaschen und getrocknet hatte. »Was bringt dich auf die Idee, ich würde in deinem Etablissement arbeiten wollen?«, fragte sie, während sie die Tunika überstreifte.
»Sicherheit. Ein sauberes Zimmer. Bessere Kunden. Besseres Geld.«
»Ich besitze Gaben. Ich kann mich selbst beschützen«, entgegnete sie. Sie sah Rozea von der Seite an. »Und was das Geld betrifft – über welche Summen reden wir?«
Rozea kicherte. »Fürs Erste wirst du nicht mehr als fünfzig Ren verdienen.«
Emerahl zuckte die Achseln. »Die habe ich von Panilo auch bekommen. Ich will hundert.«
»Sechzig und dazu neue Kleider und ein wenig Schmuck.«
»Achtzig.«
»Sechzig«, wiederholte Rozea energisch. »Mehr nicht.«
Emerahl setzte sich auf die Bettkante und tat so, als denke sie nach. »Keine groben Kunden. Ich höre, Leute wie du erlauben reichen Männern, unerfreuliche Dinge mit ihren Mädchen zu tun, wenn die Kunden genug Geld dafür bieten. Nicht mit mir. Ich besitze Gaben. Wenn sie irgendetwas versuchen sollten, werde ich sie töten.«
Die Frau kniff die Augen zusammen, dann zuckte sie die Achseln. »Also schön, keine groben Typen. Sind wir uns einig?«
»Und keine Kranken. Kein Geld ist es wert, krank zu werden.«
Rozea lächelte. »Ich tue mein Bestes, meine Mädchen zu schützen«, sagte sie stolz. »Die Kunden werden ermuntert, vorher ein Bad zu nehmen, was uns die Möglichkeit gibt, sie genauer zu betrachten. Kunden, von denen bekannt ist, dass sie krank sind, dürfen das Haus nicht betreten. Alle Mädchen bekommen reinigende Kräuter. Wenn deine Gaben groß genug sind, gibt es noch andere Methoden, die man dich lehren kann.« Sie bedachte Emerahl mit einem herablassenden Blick. »Wir stehen in dem Ruf, das sauberste Bordell in Porin zu betreiben.«
Emerahl nickte beeindruckt. »Das klingt vernünftig. Ich werde es versuchen.«
»Dann nimm deine Sachen. Ich habe einen Plattan vor dem Haus bereitstehen.«
Emerahl sah sich um. Ihre Börse befand sich in einer Tasche der Tunika, und die Seeglocke hatte sie in ihren Ärmel eingenäht. Sie erhob sich und ging zur Tür. Rozea warf einen Blick auf das Hemd und das Kapas, die sie liegen lassen hatte, dann lächelte sie und begleitete sie aus dem Haus.
»Wir erzählen unseren Kunden, dass unsere Mädchen aus guten Familien stammen, die harte Zeiten durchmachen«, sagte Rozea, während sie die Treppe hinunterstiegen. »Du hast eine altmodische Art zu reden, die diese Illusion unterstützen wird. Man wird dich alles lehren, was in der feinen Gesellschaft an Manieren verlangt wird. Wenn du dich als gelehrige Schülerin erweisen solltest, werde ich dir auch ein oder zwei fremde Sprachen beibringen.«
Emerahl lächelte schief. »Du wirst feststellen, dass ich eine schnelle Auffassungsgabe habe.«
»Gut. Kannst du lesen?«
»Ein wenig.« Sie hoffte, dass es sich tatsächlich so verhielt. Wenn sich die gesprochene Sprache im Laufe eines Jahrhunderts so sehr verändert hatte, wie sehr mochte sich dann die geschriebene Sprache verändert haben?
»Und schreiben?«
»Ein wenig.«
»Singen?«
»Gut genug, um die Vögel von den Feldern aufzuschrecken.«
Rozea lachte leise. »Dann also kein Gesang. Kannst du tanzen?«
»Nein.« Was wahrscheinlich der Wahrheit entsprach. Es war lange her, seit sie das letzte Mal getanzt hatte. »Wie heißt du?« »Emmea.«
»Jetzt nicht mehr. Dein neuer Name ist Jade.« »Jade.« Emerahl zuckte die Achseln. »Die Augen, nicht wahr?«
»Natürlich. Sie sind im Moment das Schönste an dir. Meine Mädchen werden dir zeigen, wie du deine Vorzüge besser zur Geltung bringen und deine Mängel verbergen kannst, indem du die richtige Kleidung auswählst, an deiner Haltung arbeitest und, wenn alles andere nicht hilft, Farbe auflegst.«
Am Fuß der Treppe angekommen, trat Rozea durch die Tür. In der Gasse wartete ein Plattan. Die beiden Wachen stiegen auf die Sitzbank neben dem Fahrer. Rozea bedeutete Emerahl, sich zu ihr in den Wagen zu setzen. Bevor sie einstieg, blickte Emerahl sich schnell noch einmal um. Bis auf einige schlafende Bettler war die Hauptstraße verlassen. Niemand würde ihr »Verschwinden« bezeugen können. Nicht einmal ihre Vermieterin, was kein Nachteil war.
Auf einen knappen Befehl des Fahrers setzte das Arem, das den Plattan zog, sich in Bewegung und trug Emerahl davon. Ein Bordell, dachte sie. Wird es für die Priester dadurch einfacher oder schwieriger, mich zu finden? Wahrscheinlich weder das eine noch das andere. Zumindest wird es dort behaglicher sein. Es könnte sich sogar als einträglich erweisen.
23
Der Himmel war von dem bläulichen Schwarz des frühen Abends. Überall blinkten Sterne, aber den Grund für ihre Unruhe konnte man nur erkennen, wenn man nach Westen blickte, wo hunderte geflügelter Gestalten vor einem Himmel zu sehen waren, der noch im Licht des Sonnenuntergangs leuchtete.
Diese Gestalten glitten zum Offenen Dorf hinab, zu dem flachen Bereich in der Mitte des felsigen Hangs. In einem großen Kreis waren Feuer entzündet worden, und ihr Licht tauchte die Gesichter der Siyee in einen warmen, roten Schimmer.
Inzwischen kannte Auraya viele dieser Gesichter. Sie hatte mit Siyee aller Altersklassen, Positionen und Stämme gesprochen. Nicht weit entfernt von ihr stand der Fallensteller des Stamms vom Schlangenfluss, der ihr erzählt hatte, dass torenische Siedler sein Volk aus seinen fruchtbaren Tälern vertrieben hatten. Dann war da die alte Matriarchin des Stamms von den Feuerbergen, die Auraya die Schmieden gezeigt hatte, die ihr Volk benutzte, um aus den überreichen Mineralvorkommen in ihrer Heimat Pfeilspitzen und Messer herzustellen. Soeben landeten drei junge Männer vom Tempelbergstamm, die sich bei ihr erkundigt hatten, was sie lernen müssten, um Priester zu werden.
»In meinem ganzen Leben hat es noch nie eine so große Versammlung gegeben«, murmelte Sprecher Dryss neben ihr, »und ich habe an allen teilgenommen.«
Sie drehte sich zu dem alten Mann um. »Sprecherin Sirri hat mir erklärt, dass nur Sprecher oder jene, die zu ihren Stellvertretern bestimmt wurden, an einer Versammlung teilnehmen müssen. Es überrascht mich jedoch nicht, dass auch viele andere gekommen sind. Die Entscheidung, die ihr heute Abend treffen wollt, könnte euer ganzes Leben verändern. Wenn ich eine Siyee wäre, würde ich hier sein wollen, um die Entscheidung der Sprecher zu hören.«
»Das stimmt, aber ich bin davon überzeugt, dass einige nur deshalb hier sind, um einen Blick auf die Auserwählte der Götter zu erhaschen«, erwiderte er kichernd. Sie lächelte. »Dein Volk hat mich sehr herzlich aufgenommen, Sprecher Dryss. Ich gestehe, ich habe mich in diesen Ort verliebt und wünschte, ich würde nicht fortgehen müssen.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Vermisst du denn nicht die Annehmlichkeiten deines Zuhauses?«
»Ein wenig«, gab sie zu. »Vor allem vermisse ich die heißen Bäder. Und meine Freunde.«
Er öffnete den Mund zu einer Antwort, aber in diesem Moment wandte Sprecherin Sirri sich der Reihe von Sprechern zu.
»Es wird Zeit, denke ich. Wenn wir auf Nachzügler warten, wird die Nacht zu Ende sein, bevor wir fertig sind.«
Die anderen nickten zustimmend. Als Sirri auf den Sprecherfelsen trat, brachen die Siyee ihre Gespräche ab und blickten erwartungsvoll empor.