»Wem huldigen sie?«
»Fünf Göttern, genau wie wir es tun, aber ihre Götter sind nicht real.«
»Vielleicht ist das der Grund, warum sie ihren Glauben mit solcher Grimmigkeit verteidigen«, murmelte Dryss.
»Warum ist diese Zauberin nach Si gekommen?«, fragte ein anderer Sprecher.
»Aus dem gleichen Grund wie Auraya: um ein Bündnis zu suchen«, antwortete ihm jemand.
»Indem sie uns angreifen?«
»Die Frau sagte, es sei ein Versehen gewesen. Sie sagte, sie habe die Absicht gehabt, unsere Freundschaft zu erringen.« »Bis sie Auraya sah.«
Mehrere Sprecher blickten zu Auraya hinüber. Sie sah ihnen fest in die Augen und hoffte, dass sie mehr Zuversicht ausstrahlte, als sie empfand.
»Sie hat uns bedroht«, rief Dryss ihnen ins Gedächtnis. »Ich fürchte, wir sind gezwungen, uns zwischen zwei großen Mächten zu entscheiden. Ganz gleich, was wir tun, uns stehen Veränderungen bevor, denen wir nicht ausweichen können.«
»Ihr braucht euch für keine dieser Mächte zu entscheiden«, warf Auraya ein. »Ihr könnt euch dafür entscheiden, alles beim Alten zu belassen.«
»Und von diesen Siedlern der Landgeher langsam ausgehungert und gejagt zu werden, bis unser Volk ausgerottet ist?«, erwiderte ein Sprecher. »Das ist keine Alternative.«
»Jetzt können wir gegen die Eindringlinge kämpfen«, bemerkte ein junger Sprecher.
»Indem wir diesen Pfeilwerfer benutzen. Wir brauchen uns mit niemandem zu verbünden!«
Zustimmendes Gemurmel wurde laut. Auraya hob die Hände, und die Sprecher verstummten wieder. »Wenn es euer Wunsch ist, werde ich Si verlassen. Sobald ich fort bin, könnt ihr diese Zauberin einladen, in euer Land zurückzukehren. Findet heraus, was sie von euch will und was sie als Gegenleistung anzubieten hat. Aber bitte, seid vorsichtig. Vielleicht hatte sie nicht die Absicht, euren Jägern Schaden zuzufügen, aber ich weiß, dass einer ihrer Gefährten ein grausamer Mann ist, der Tod und Schmerz bringt, einfach weil es ihm Vergnügen bereitet. Es wäre mir schrecklich, die Siyee unter seinen Händen leiden zu sehen.«
»Vielleicht war er ein Gesetzloser. Vielleicht ist er nach Nordithania gekommen, weil man ihn aus den Ländern der pentadrianer verbannt hat«, wandte der junge Sprecher ein.
»Zumindest haben diese Pentadrianer uns niemals unser Land gestohlen«, murmelte ein anderer.
»Das könnte daran liegen, dass sie keine Grenze mit uns teilen«, bemerkte Sirri. Auraya zuckte zusammen. »Jetzt haben sie eine.« Die Sprecher sahen sie stirnrunzelnd an. »Wie meinst du das?«, fragte Dryss.
»Der sennonische Kaiser hat gestern einen Allianzvertrag mit den Pentadrianern unterzeichnet. Und Sennon teilt eine Grenze mit euch, auch wenn es nur eine kleine ist.« »Auf ihrer Seite gibt es nur Wüste.«
»Aber dort, wo die Wüste endet, beginnen die Berge.« Dies kam von einem Sprecher, der sich bisher nicht an der Unterredung beteiligt hatte. »Es gibt mehrere Siedlungen von Landgehern entlang der Küste.«
Die Sprecher verfielen in Schweigen und senkten den Blick zu Boden. Auraya durchzuckte jähes Mitgefühl, als sie spürte, wie sie mit ihren Ängsten rangen.
»Männer und Frauen von Si«, sagte sie leise. »Ich wünschte, es stünden euch nicht so harte Zeiten und so schwierige Entscheidungen bevor. Ich kann euch diese Entscheidungen nicht abnehmen. Ich kann euch nicht sagen, wem ihr vertrauen sollt. Ich würde niemals auch nur im Traum daran denken, euch eine Entscheidung aufzuzwingen. Als die Götter mich und die anderen Weißen baten, Allianzen mit allen Ländern Ithanias anzustreben, taten sie dies meiner Meinung nach nur aus dem Wunsch heraus, uns alle in Frieden geeint zu sehen. Vielleicht haben sie irgendeinen zukünftigen Konflikt vorausgesehen. Ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, dass es eine große Ehre für uns wäre, das Volk von Si an unserer Seite zu wissen, sei es in Zeiten des Konflikts oder des Friedens.«
Sie erhob sich, nickte kurz und verließ dann den Raum. Als sie sich von der Laube entfernte, hörte sie gedämpfte Stimmen. Sie konnte keine einzelnen Worte verstehen, aber ihre Gaben sagten ihr, was gesprochen wurde.
»Wir sitzen in dieser Angelegenheit – was auch immer dahinterstecken mag – in der Falle, ob es uns gefällt oder nicht. Ich sage, wir sollten uns für eine Seite entscheiden, denn auf uns allein gestellt werden wir gewiss umkommen.«
Es folgte eine Pause, dann: »Wenn wir entscheiden müssen, wem wir vertrauen können, wollen wir uns dann jemandem anschließen, der insgeheim in unser Land gekommen ist und gefährliche Vögel mitgebracht hat, oder jemandem, der gewartet hat, bis wir ihn eingeladen haben?«
Und zu guter Letzt: »Huan hat uns geschaffen. Huldigen diese Pentadrianer Huan? Nein. Ich entscheide mich für die Weißen.«
25
In den Schatten um Leiard und Jayim konnte man nur die undeutlichen Schemen von Bäumen und Pflanzen erkennen. Sie hätten sich ebenso gut mitten in einem Wald befinden können. Es war das Fehlen vertrauter Geräusche, das die Illusion verdarb und Leiard unmissverständlich sagte, dass sie sich auf dem Dach des Hauses der Bäckers befanden.
Ich vermisse den Wald, ging es ihm plötzlich durch den Kopf. Ich vermisse es, gelassen zu sein. Ich vermisse die Ruhe von Herz und Geist. Das Gefühl von Sicherheit. Dann kehr in deinen Wald zurück, Narr. Leiard ignorierte die scharfen Worte in seinem Geist. Diese Stimme in meinem Kopf ist lediglich das Echo eines lange verstorbenen Zauberers, rief er sich ins Gedächtnis. Wenn ich ihm keine Beachtung schenke, wird er fortgehen. Er blickte zu Jayim hinüber. Der Junge, der an Leiards lange Pausen gewöhnt war, wartete geduldig.
»Magie kann in vielfältiger Weise zum Heilen benutzt werden«, sagte Leiard. »Die Gaben, die ich dich lehren werde, teilen sich in drei verschiedene Schwierigkeitsstufen. Die erste Stufe fordert simple Taten: das Abklemmen eines Blutgefäßes, um eine Blutung zu stillen; das Ausbrennen von Wunden; die Einrichtung von gebrochenen Knochen. Bei der zweiten Stufe geht es um kompliziertere Dinge: die Fähigkeit, den Blutfluss entweder zu fördern oder zu hemmen, Stimulierung und Leitung des Selbstheilungsprozesses des Körpers und das Ausblenden von Schmerz. Auf der dritten Stufe setzt man Gaben ein, die so schwierig sind, dass es Jahre dauert, sie zu erlernen, falls es überhaupt möglich ist – da nur ein oder zwei Traumweber in jeder Generation über die Fähigkeiten verfügen, diese Stufe zu erreichen. Diese Gaben erfordern eine Konzentrationstrance und sichere Kenntnisse über alle Vorgänge des Körpers. Wenn du sie erlernst, wirst du in der Lage sein, jedes Gewebe in einem Körper wieder zusammenzufügen. Du wirst außerdem eine Wunde verschwinden lassen können, ohne dass eine Narbe zurückbleibt. Du wirst einem Blinden das Augenlicht geben und eine unfruchtbare Frau fruchtbar machen können.«
»Kann ich auch Tote wiederbeleben?«
»Nein. Jedenfalls nicht solche, die wahrhaft tot sind.«
Jayim runzelte die Stirn. »Kann jemand tot sein, ohne wahrhaft tot zu sein?«
»Es gibt Möglichkeiten, um...«
Leiard brach ab und wandte sich zur Treppe um. Er konnte leise Schritte näher kommen hören. Die Schritte von zwei Personen. Eine Lampe erschien, und helles Licht strahlte auf das Dach hinaus. Tanara trat durch die Tür, gefolgt von einem vertrauten, gut gekleideten Mann.
»Leiard?«, rief Tanara zaghaft. »Du hast Besuch.«
»Danjin Speer.« Leiard stand auf. »Was führt dich...?«
»Bevor ihr euer Gespräch beginnt, kommt doch herein«, unterbrach ihn Tanara. »Es ist zu kalt, um hier draußen einen Gast zu empfangen.«
Leiard nickte. »Ja, du hast recht.«
Tanara geleitete sie die Treppe hinunter und in den Gemeinschaftsraum, wo Kohleöfen Wärme verströmten, dann ließ sie sie allein und nahm Jayim mit, damit er ihr half, heiße Getränke zuzubereiten. Danjin ließ sich mit einem Seufzer in einen Sessel sinken.