Auraya war fasziniert gewesen, als sie erfuhr, dass die Siyee einen eigenen Tempel besaßen. Obwohl sie Huan huldigten, waren sie doch keine wahren Zirkler. Sie folgten den Ritualen und Traditionen nicht, die die Landgeher ersonnen hatten, um ihrer Huldigung der fünf Götter Ausdruck zu verleihen. Genau genommen kannten die Siyee diese Traditionen nicht einmal.
Sie hatte den Tempel besuchen wollen, aber das Gesetz der Siyee untersagte es jedem, sich zu nähern, es sei denn, die Göttin hätte ihn eingeladen oder er käme in Begleitung eines Wächters; die Siyee hatten keine Priester oder Priesterinnen, doch die Wächter kamen dieser Funktion am nächsten. An diesem Morgen hatte Sirri eine solche Einladung ausgesprochen. Seither verspürte Auraya ein aufgeregtes Prickeln in ihrem Magen. Bedeutete das, dass sie endlich zu ihr sprechen würden?
Wenn sie hier sind, warum sprechen sie nicht einfach zu mir? Warum diese Einladung, die sie durch andere übermitteln lassen?, fragte sich Auraya nicht zum ersten Mal. Vielleicht wollen sie, dass die Siyee es erfahren. Hätten die Götter einfach in meine Gedanken hineingesprochen, hätten die Siyee nichts davon bemerkt, oder aber sie hätten darauf vertrauen müssen, dass ich die Wahrheit sage. Und wenn die Götter in Anwesenheit der Siyee erschienen wären, würde das dem Tempel ein wenig von seiner Heiligkeit nehmen, da dies der einzige Ort ist, an dem sie mit Huan in Verbindung treten können.
Je näher sie dem Gipfel kamen, desto deutlicher konnte Auraya Einzelheiten erkennen. Die höchste Stelle war seltsam geformt – zylindrisch mit rundem Abschluss. Plötzlich ergab das, was sie in Sirris Geist gesehen hatte, einen Sinn. Aus dem steinernen Gipfel war ein kleiner Pavillontempel herausgehauen worden.
Sie fragte sich, wie er erbaut worden war. Unter dem runden Sockel befand sich zu allen Seiten ein fast lotrechter Abgrund. Wenn man allerdings eine Höhle in den Fels gehauen hatte, hätte man danach den Rest von innen wegschlagen können. Niemand außer den Siyee konnte jedoch einen derart hochgelegenen, unzugänglichen Ort erreicht haben. Sie hatte nicht gewusst, dass die Steinmetze der Siyee so begabt waren. Als sie näher kam, konnte sie sehen, dass es sich um ein schlichtes, schmuckloses Gebäude handelte. Fünf Säulen trugen ein Kuppeldach. Die Proportionen waren makellos, und die Oberfläche war blank poliert.
Sirri schlug mit den Flügeln, um ein wenig an Höhe zu gewinnen, dann legte sie sie schräg, so dass sie geschickt zwischen zwei Säulen landete. Auraya gab den Versuch auf, so zu tun, als sei sie ebenfalls den Kräften des Windes und dem Sog der Erde unterworfen. Sie richtete sich auf und hielt mitten in der Luft inne, bevor sie sich vorwärtsbewegte, bis ihre Füße den Boden des Tempels berührten. Erst jetzt fiel ihr auf, dass der Tempel sich von seinen Maßen eher an der Größe der Landgeher orientierte als an der Größe der Siyee. Sie konnte aufrecht stehen, ohne den Kopf einziehen zu müssen.
»Das ist der Tempel«, sagte Sirri leise. »Er ist schon immer hier gewesen. In unseren Unterlagen heißt es, er habe hier gestanden, lange bevor die Siyee geschaffen wurden.«
»Die Siyee haben den Tempel nicht erbaut?«
Sirri schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Wer dann?«
»Das weiß niemand. Vielleicht Huan.«
Auraya nickte, obwohl sie nach wie vor vor einem Rätsel stand. Die Götter konnten auf diese Welt nur durch Menschen einwirken, was bedeutete, dass zumindest ein Mensch an der Erbauung des Tempels beteiligt gewesen sein musste. Vielleicht hatte Huan einem Steinmetz die Fähigkeit des Fliegens geschenkt, um diesen Ort erschaffen zu lassen.
»Dies ist ein heiliger Ort. Selbst die Mitglieder des Tempelbergstamms, die über den Tempel wachen, kommen nur selten hierher.« Sirri schenkte Auraya ein schnelles Lächeln. »Wir wollen Huan nicht unnötig von ihrer Arbeit ablenken.«
Auraya strich mit der Hand über eine Säule. Nichts in ihrer Beschaffenheit ließ auf hohes Alter schließen. »Es ist erstaunlich.«
»Ich habe eine Frage, bevor ich aufbreche«, sagte Sirri. »Die Sprecher möchten wissen, wann du nach Borra abreisen willst?«
»Wann ich abreisen will? Niemals.« Auraya seufzte. »Aber ich muss es tun – und zwar bald. Ich muss versuchen, die Elai zu überreden, sich uns anzuschließen.«
Sirri lächelte. »Dann wünsche ich dir viel Glück. Die Elai begegnen Fremden mit großem Misstrauen.«
Auraya nickte. »Das hast du mir bereits erzählt. Trotzdem treiben sie mit euch Handel.«
»Wir Schöpfungen Huans bleiben gern miteinander in Verbindung. Der Sandstamm treibt Handel mit den Elai. Du solltest dich mit ihrem Sprecher treffen, bevor du abreist. Er kann dir sicher mehr über das Meeresvolk erzählen als ich.«
»Das werde ich tun.«
Mit einem Mal wurde die Miene der Sprecherin ernst. »Und jetzt, Auraya von den Weißen, muss ich dich allein lassen.« Sie trat an den Rand des Tempels und deutete in die Tiefe. »Siehst du diesen Fluss?«
Auraya trat neben Sirri und blickte hinab. Der Himmel spiegelte sich in dem schmalen Band des Wasserlaufs tief unten in der engen Schlucht wider.
»Ja.«
»Wenn du fertig bist, flieg dort hinunter. Der Tempelbergstamm lebt in Höhlen entlang der Schlucht.« Sie drehte sich mit einem Lächeln zu Auraya um, dann beugte sie sich über den Rand und schwebte davon.
Auraya.
Sie hatte das Gefühl, als höre ihr Herz zu schlagen auf. Die Stimme war in ihren Gedanken erklungen, und sie war eindeutig weiblich.
Huan?
Ja.
Die Luft vor ihr wurde heller. Auraya trat mit hämmerndem Herzen zurück, als sich vor ihr eine Gestalt aus Licht bildete. Sie ließ sich auf die Knie fallen und legte sich dann vor der Göttin nieder.
Erhebe dich, Auraya.
Während Auraya gehorchte, erzitterte sie in einer Mischung aus Freude und Furcht. Sie stand ganz allein vor einer Göttin. Auch wenn ich eine ihrer Auserwählten bin, bin ich vor ihr doch nur ein gewöhnlicher Mensch. Huan lächelte.
Du bist kein gewöhnlicher Mensch, Auraya. Wir erwählen keine gewöhnlichen Menschen. Wir erwählen jene mit herausragenden Talenten, und davon hast du gewiss mehr, als wir ursprünglich wahrnehmen konnten.
Der Tonfall der Göttin war anerkennend, und doch spürte Auraya einen Anflug von Ironie darin. Sie hatte allerdings keine Zeit, sich über die Bedeutung von Huans Worten den Kopf zu zerbrechen, da die Göttin bereits weitersprach.
Wir sind sehr zufrieden mit deinen bisherigen Bemühungen, Nordithania zu einen. Mich freut es besonders, die Siyee mit den Weißen verbunden zu sehen. Allerdings wirst du feststellen, dass von meinen beiden Rassen die Siyee diejenigen sind, deren Freundschaft man leichter erringen kann. Deine Fähigkeit zufliegen wird die Elai nicht beeindrucken. Sie werden eine größere Herausforderung für dich darstellen.
Wie kann ich sie beeindrucken?
Das musst du selbst herausfinden, Auraya. Die Entscheidung muss ihre eigene sein,daher werden wir uns nicht einmischen, indem wir dir Anweisungen oder den Elai Ratschläge geben.
Ich verstehe.
Huans Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln.
Das bezweifle ich. Du bist jung und hast noch viel zu lernen – vor allem in Angelegenheiten des Herzens. Ich habe nichts dagegen, dass du dich mit dem Traumweber vergnügst, Auraya. Es ist die Aufgabe der anderen Weißen, darüber zu befinden, was für die Menschen annehmbar ist oder nicht. Lass dir jedoch ein Wort der Warnung gesagt sein. Aus dieser Art von Liebekann nur Schmerz erwachsen. Sei darauf vorbereitet. Dein Volk braucht eine starke Vertreterin in dir.
Gerätst du ins Wanken, werden die Menschen vielleicht leiden.
Aurayas Gesicht wurde heiß, als Überraschung von Verlegenheit verdrängt wurde.
Ich werde deinen Rat beherzigen, war alles, was ihr zu sagen einfiel.