Sirri sah Auraya nachdenklich an. »Wir haben dich auf unsere Seite gezogen, nicht wahr?«
»Ich war noch nie so glücklich wie hier.«
»Du bist die einzige Landgeherin, bei der ich ständig vergesse, dass sie eine Landgeherin ist.« Sirri runzelte die Stirn. »Klingt das vernünftig?«
Auraya lachte. »Ja, das tut es. Ich vergesse ebenfalls immer wieder, dass ich eine Landgeherin bin.«
Sie hatten inzwischen die ersten Sprecher erreicht, die in einer Reihe am Rand des Felsvorsprungs standen. Auraya richtete das Wort an einen jeden von ihnen, dankte denen für ihre Gastfreundschaft, deren Stämme sie besucht hatte, und versprach den anderen, einen solchen Besuch zu einem späteren Zeitpunkt nachzuholen. Der Sprecher am Ende der Reihe war der Anführer des Sandstamms, Tyrli. Der ernste alte Mann und die wenigen Mitglieder seines Stammes, die zu der Versammlung in das Offene Dorf gereist waren, würden ihr den Weg bis zur Küste weisen.
»Ich freue mich, dass du mich auf meiner Reise begleiten wirst und ich auf diese Weise Gelegenheit haben werde, deine Heimat zu sehen, Sprecher Tyrli«, sagte sie. Er nickte. »Ich fühle mich geehrt, einer der Auserwählten der Götter behilflich sein zu können.«
Sie spürte, dass er ein wenig überwältigt war, und trat neben Sprecherin Sirri, die sich jetzt der Menge zugewandt hatte.
»Volk der Berge. Stämme der Siyee. Wir, die Sprecher, haben euch hierhergerufen, um einer Besucherin unseres Landes Lebewohl zu sagen. Sie ist, wie ihr alle wisst, keine gewöhnliche Besucherin. Sie ist Auraya, eine der Auserwählten der Götter und unsere Verbündete.« Sie drehte sich zu Auraya um. »Fliege hoch, fliege schnell, fliege wohl, Auraya von den Weißen.«
Die Menge wiederholte die Worte. Auraya lächelte und trat vor.
»Volk von Si, ich danke euch für eure herzliche Gastfreundschaft. Ich habe jeden Augenblick meines Aufenthalts bei euch genossen. Es bekümmert mich, euch verlassen zu müssen, und ich weiß, sobald ich von hier fortgegangen bin, werde ich ungeduldig auf eine Möglichkeit zur Rückkehr warten. Ich wünsche euch alles Gute. Mögen die Götter über euch wachen.«
Sie machte mit beiden Händen das Zeichen des Kreises. Einige der Kinder in der Menge ahmten ihre Geste nach, und wieder wurden begeisterte Pfiffe laut. Tyrli stellte sich neben sie.
»Wir sollten jetzt aufbrechen«, murmelte er.
Er beugte sich vor, breitete die Arme weit aus und sprang von dem Felsen. Der Wind trug ihn empor. Als Auraya seinem Beispiel folgte, flogen die Siyee aus den Bäumen auf und gesellten sich unter lautem Pfeifen zu ihr. Lachend winkte sie dieser jungen Eskorte zu, die spielerisch um sie herumschwirrte.
Als sie sich ein gutes Stück vom Offenen Dorf entfernt hatten, ließen sich die ersten Siyee zurückfallen, bis schließlich nur noch Tyrli und sein Stamm bei ihr waren. Die Zeit schien plötzlich langsamer zu vergehen. Während des Fluges schwiegen die Siyee meistens, und wenn sie sich doch miteinander in Verbindung setzten, dann handelte es sich um einfache Befehle oder Richtungsangaben, und dafür benutzten sie schon lange keine Wörter mehr, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher Pfiffe. Daher war Auraya sehr überrascht, als Tyrli sein Tempo verlangsamte und neben ihr herflog, um mit ihr zu reden.
»Es war dein Wunsch, mehr über die Elai zu erfahren«, begann er.
Sie nickte.
»Sie werden von einem König regiert«, erklärte er. »Von einem Anführer, statt von vielen.«
»Gibt es verschiedene Stämme unter den Elai?«
»Nein. Früher einmal war das anders; es gab einen Stamm für jede Insel. Inzwischen leben die meisten von ihnen auf der Hauptinsel. In ihrer Stadt.«
»Woran liegt das?«
»Die Landgeher haben sie über viele Jahre hinweg immer wieder angegriffen. Das Leben auf den äußeren Inseln ist nicht mehr sicher.« Er sah sie mit ernster Miene an. »Aus diesem Grund mögen die Elai die Landgeher nicht.«
Auraya runzelte die Stirn. »Warum haben diese Landgeher sie angegriffen?«
»Um sie zu bestehlen.«
»Dann waren es also Plünderer.«
»Ja. Die Elai befinden sich in einer viel schlimmeren Situation als die Siyee. Diese Landgeher haben viele von ihnen getötet. Es gibt viele tausend Siyee, aber von den Elai sind nur noch wenige tausend übrig geblieben.«
»Und sie leben alle in dieser Stadt. Hast du die Stadt jemals gesehen?«
Er blickte beinahe sehnsüchtig drein. »Niemand außer den Elai kennt die Stadt. Nur sie können dorthin gelangen. Die Stadt ist eine große Höhle, die man durch Tunnel unter der Wasseroberfläche erreicht. Es heißt, sie sei wunderschön.«
»Eine Unterwasserstadt. Dort sollten sie eigentlich sicher vor Plünderern sein.« Wie sollte sie mit den Elai reden, wenn sie unter Wasser lebten? Würden die Götter ihr auch die Gabe verleihen, unter Wasser zu atmen?
»Ganz so ist es nicht«, entgegnete Tyrli, und Auraya hatte beinahe den Eindruck, dass er lächelte. »Die Elai mögen im Wasser leben, aber sie atmen dennoch Luft. Sie können allerdings lange Zeit den Atem anhalten.«
Sie sah ihn überrascht an. »Dann sind die Legenden in diesem Punkt also falsch? Sind die Elai mit Schuppen bedeckt? Haben sie einen Fischschwanz anstelle von Beinen?«
Er lachte. »Nein, nein.« Sie fing eine schemenhafte Gestalt in seinen Gedanken auf: einen fast nackten, unbehaarten Mann mit dunkler, leuchtender Haut und einem massigen Brustkorb. »Huan hat ihnen eine so dicke Haut gegeben, dass sie für viele Stunden im Wasser bleiben können, und außerdem große Lungen, damit sie über lange Zeit hinweg den Atem anhalten können. Darüber hinaus hat sie ihnen Flossen gegeben – aber sie sind nicht wie die Flossen von Fischen. Die Flossen der Elai haben mit Fischflossen so viel gemein wie unsere Flügel mit den Flügeln von Vögeln. Wenn du sie siehst, wirst du verstehen, was ich meine.«
Sie nickte. »Hat jemals irgendein Landgeher ihre Freundschaft gewonnen?«
Er dachte kurz nach. »Einer. Vor langer Zeit. Er hat auch uns oft besucht. Ich habe gehört, dass er einen geheimen Weg nach Si kannte, obwohl nicht einmal die Siyee heute noch wissen, wo dieser Weg liegt. Viele haben ihn sehr gemocht. Er war ein Heiler mit großen Gaben. Er konnte Flügel heilen, die hoffnungslos beschädigt waren.«
»Er muss ein mächtiger Zauberer gewesen sein. Wie war sein Name?«
Tyrli dachte kurz nach, dann nickte er. »Sein Name war Mirar.«
Sie drehte den Kopf und starrte ihn an. »Mirar? Der Begründer der Traumweber?«
Wieder nickte Tyrli. »Er war ein Traumweber, ja.«
Auraya wandte den Blick ab, nahm aber kaum noch etwas von der Landschaft wahr, während sie über diese Enthüllung nachsann. War es wirklich so überraschend, dass Mirar vor langer Zeit durch diese Berge gestreift war? Dann fiel es ihr wieder ein:
Leiard hatte ihr erzählt, dass er Erinnerungen an die Siyee besaß. Waren es Mirars Erinnerungen? Und wenn es so war, hatte Leiard dann auch Erinnerungen an die Elai? Sie schürzte die Lippen. Wenn er heute Nacht in einer Traumvernetzung zu ihr sprach, würde sie ihn nach dem Meeresvolk fragen. Obwohl es so klang, als bedürften die Elai der Hilfe der Weißen noch mehr als die Siyee, vermutete sie doch, dass ihr Groll allen Landgehern gegenüber Verhandlungen mit ihnen schwierig machen würde. Vielleicht wusste Leiard am besten, wie man ihr Vertrauen gewinnen konnte. Sie brauchte alle Informationen, die sie bekommen konnte.
Schließlich drehte sie sich wieder zu Tyrli um und lächelte. »Also, wie lange treibt dein Stamm schon Handel mit den Elai?«
Drilli seufzte und folgte ihren Eltern aus der Laube. Sie waren wieder einmal auf dem Weg zu einem Treffen mit dem Schlangenflussstamm. Die Familien, die unter den anderen Stämmen lebten, nutzten die Versammlungen als Möglichkeit, an einem Ort zusammenzukommen und Pläne für die Zukunft zu schmieden. Sie blickte zu Tryss’
Familienlaube hinüber, obwohl sie wusste, dass er nicht zu Hause war, sondern andere Siyee in der Benutzung des Geschirrs unterwies. Nicht einmal seine Vettern waren in der Nähe.