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Am Mittwoch war die Schule früher zu Ende.

Die letzte Klingel läutete schon um halb zwei, damit die Lehrer noch irgendeine Konferenz abhalten konnten. Sie hatten den ganzen Vormittag über Heimatkunde gehabt, Mr. Fleischer hatte über Sumpfgebiete, die Geografie und die verschiedenen Arten von Vögeln und Tieren gesprochen, die hier lebten, und Tess hatte zwar die meiste Zeit aus dem Fenster gestarrt, aber dennoch aufmerksam zugehört. Blind Lake (der See, nicht die Stadt) klang faszinierend, jedenfalls so, wie Mr. Fleischer ihn beschrieb. Er hatte über die Gletscher gesprochen, die diesen Teil der Welt vor Tausenden und Abertausenden von Jahren bedeckt hatten. Das war an sich schon interessant gewesen. Tess hatte natürlich schon mal von der Eiszeit gehört, aber ihr war nicht so richtig klar gewesen, dass es hier passiert war, dass das Land genau unter dem Fundament der Schule einst unter einer unerträglichen Last von Eis begraben gewesen war, dass die Gletscher bei ihrem Vordringen wie riesige Pflüge Felsen und Erde vor sich hergeschoben und später, als sie sich wieder zurückzogen, die Niederungen und Mulden ringsum mit uraltem Wasser gefüllt hatten.

Heute war es bewölkt und kühl, aber nicht regnerisch oder sonstwie unangenehm. Da der Nachmittag vor ihr lag wie ein ungeöffnetes Geschenk, beschloss Tess, dem Sumpfgebiet, dem ursprünglichen Blind Lake, einen Besuch abzustatten. Auf dem Schulhof kam sie an Edie Jerundt vorbei und fragte sie, ob sie Lust hätte, mitzukommen. Edie, die auf einen an der Leine hängenden Ball eindrosch, runzelte die Stirn und sagte: »Unh-uh.« Der Ball klatschte dumpf gegen seine Eisenstange. Tess zuckte die Achseln und ging weiter.

Das Eis war vor zehntausend Jahren hier gewesen, hatte Mr. Fleischer gesagt. Zehntausend Sommer, die immer kühler wurden, wenn man sich vorstellte, dass man rückwärts in der Zeit reiste, den Gletschern entgegen. Zehntausend Winter, die irgendwann zu einem einzigen ununterbrochenen Winter verschmolzen. Sie fragte sich, wie es wohl gewesen war, als die Welt sich gerade wieder zu erwärmen begonnen hatte, die Gletscher sich zurückzogen und das Land darunter freilegten (»Grundmoräne«, hatte Mr. Fleischer gesagt; »Waschbrettmoräne«, was immer das bedeuten mochte), weit mitgeschleppter Boden sich aus dem Eis löste, um Felstäler zu blockieren, die neuen Flüsse einzuschlämmen und frische Soden für das Grasland zu liefern. Vielleicht hatte damals alles nach Frühling gerochen, dachte Tess. Vielleicht hatte es jahrelang so gerochen, nach Dreck und Fäulnis und neu wachsenden Pflanzen.

Und lange davor, vor der Eiszeit, hatte es da einen weltweiten Herbst gegeben? Musste es ja wohl. Tess war sich ziemlich sicher. Eine ganze Welt so wie die, die sie gerade hatten, dachte sie, wo es morgens manchmal schon Frost gab und man seinen Atem sehen konnte, wenn man zu Fuß zur Schule ging. Sie wusste, dass das Sumpfgebiet hinter den gepflasterten Abschnitten der Stadt lag, bestimmt noch zwei Kilometer weiter östlich, hinter den Kühltürmen der Eyeball Alley und dem niedrigen Hügel, wo man im Winter (hatte Edie Jerundt ihr erzählt) rodeln konnte, aber die älteren Kinder waren gemein und rammten einen immer, wenn man keinen Erwachsenen dabeihatte.

Es war weit zu gehen. Sie folgte der gehsteiglosen Zugangsstraße, die vonden Stadthäusern ostwärts Richtung Alley führte, und wandte sich seitwärts, als sie den Rand dieses Gebäudekomplexes erreichte. Tess war noch nie in der Eyeball Alley gewesen, allerdings hatten sie in Crossbank einmal einen Schulausflug zu einem ähnlichen Gebäude gemacht. Ehrlich gesagt, hatte sie ein bisschen Angst vor der Alley. Ihre Mutter behauptete, sie sei genau wie die in Crossbank — ein Duplikat sogar —, und Tess hatte diese tiefen Korridore, die riesigen Aufbauten der O/BEK-Zylinder und die lauten Kältepumpen, die sie kühlten, überhaupt nicht gemocht. All diese Dinge waren ihr unheimlich, zumal Mrs. Flewelling, ihre damalige Lehrerin, wiederholt erwähnt hatte, dass man diese Apparate und ihr Funktionieren »noch nicht sehr gut begreifen« konnte.

Sie begriff immerhin, dass die Bilder des Ozeanplaneten in dem betreffenden Gebäude von Crossbank und die von Hummerhausen hier am Lake erzeugt wurden, in der Eyeball Alley und dem Großen Auge, wie man das Gegenstück in Crossbank genannt hatte. Von diesen Einrichtungen ging etwas Geheimnisvolles aus. Die Bilder selbst hatten Tess nie sonderlich beeindruckt, das statische Leben des Subjekts oder die noch statischeren Anblicke des Meeres — das war langweiliges Fernsehen —, aber wenn sie in der richtigen Stimmung war, konnte sie sie auf die gleiche Weise anstarren, wie sie manchmal aus dem Fenster starrte, und dabei die außerordentliche Fremdartigkeit des Tageslichts auf dem anderen Planeten empfinden.

Die Kühltürme an der Eyeball Alley stießen blasse Dampfschwaden in die Nachmittagsluft. Wolken zogen über sie hinweg wie unruhige Herdentiere. Tess ging um das Gebäude herum, wobei sie sorgsam von der Umzäunung Abstand hielt. Dann wandte sie sich nach Westen durch das wilde Gras, auf einem der zahllosen Pfade, die die Kinder von Blind Lake sich in die Prärie hinein gebahnt hatten. Sie knöpfte den Kragen ihrer Jacke zu, um sich vor dem aufkommenden Wind zu schützen.

Als sie die Spitze des Rodelbergs erreicht hatte, taten ihr bereits die Füße weh und sie war kurz davor, umzukehren, aber dann ließ sie sich vom ersten Anblick des Sumpfgebiets faszinieren.

Hinter dem Hügel und jenseits eines grasbewachsenen Randstücks lag Blind Lake, ein »halbpermanentes Sumpfgebiet«, wie Mr. Fleischer gesagt hatte, 250 Hektar feuchte Wiesen und flaches Moor. Das Land war mit Grashöckern und breiten Teichkolbenbüscheln überwachsen, und auf den freien Wasserflächen konnte sie rastende Kanadagänse ausmachen, die schon den ganzen Herbst über in lärmender V-Formation über den Ort hinweggeflogen waren.

Dahinter war noch ein weiterer Zaun, beziehungsweise war es derselbe Zaun, der das gesamte Nationale Laboratorium von Blind Lake und noch dazu das Sumpfgebiet umgab. Dieses Land war eingezäunt, aber es war dennoch wild. Es lag innerhalb des sogenannten Sicherheitsperimeters. Falls sie in dieses Moorgebiet hineinwanderte, war Tess vor Terrorangriffen und Spionageagenten sicher, möglicherweise jedoch nicht vor beißenden Schildkröten oder Moschusratten. (Sie wusste nicht, wie Moschusratten aussahen, aber Mr. Fleischer hatte gesagt, dass sie hier lebten, und Tess gefiel schon der Klang des Namens nicht.)

Sie ging noch ein Stück weiter hügelabwärts, bis Wasser unter dem Druck ihrer Füße aus dem Boden quoll und die Teichkolben sich vor ihr auftürmten wie braune Wachposten mit Wollköpfen. In einer Pfütze unbewegten Wassers zu ihrer Linken sah sie ihr Spiegelbild.

Falls es nicht Mirror Girl war, die sie ansah.

Tess war kaum willens, diese Möglichkeit auch nur ganz im Geheimen in Betracht zu ziehen. Es hatte so viel Ärger in Crossbank gegeben. Psychologen, Psychiater, all die endlosen und zum aus der Haut Fahren geduldigen Fragen, die man ihr gestellt hatte. Die Blicke, mit denen die Leute sie angesehen hatten, sogar ihr Vater und ihre Mutter, als hätte sie etwas ganz und gar Schändliches getan, ohne es zu wissen. Nein, lieber nicht. Nicht schon wieder.

Mirror Girl war nur ein Spiel gewesen.

Das Problem war, dass das Spiel sich sehr real angefühlt hatte. Nicht wirklich real, so wie ein Stein oder ein Baum real und solide waren. Aber realer als ein Traum. Realer als ein Wunsch. Mirror Girl sah genauso aus wie Tess und hatte nicht nur Spiegel bewohnt (in denen war sie zuerst erschienen), sondern auch die leere Luft. Mirror Girl flüsterte Fragen, auf die Tess nie gekommen wäre, Fragen, die sie nicht immer beantworten konnte. Mirror Girl, hatten die Therapeuten gesagt, sei Tess' eigene Erfindung, aber Tess glaubte nicht, dass sie eine so hartnäckige und oft lästige Persönlichkeit, wie Mirror Girl eine gewesen war, erfinden konnte.

Sie riskierte noch einen Blick auf das spiegelnde Wasser zu ihren Füßen. Wasser voller Wolken und Himmel. Wasser, in dem ihr eigenes Gesicht aus einem verzerrten Winkel zurückblickte und zu lächeln schien, als würde es sie wiedererkennen.