Chris spähte in die Ferne.
Die gewundene Zufahrtsstraße nach Blind Lake war gut einsehbar unter einer Decke von geballten, übereinanderstürzenden Wolken. Und ja, irgendetwas näherte sich dem geschlossenen Tor von außen. Chris vermutete, dass Elaines Einschätzung wahrscheinlich zutreffend war: Es sah aus wie ein großer achtzehnrädriger, führerloser Güterlastwagen, ein Drohnenfahrzeug der Machart, wie es das Militär in der türkischen Krise vor fünf Jahren eingesetzt hatte. Es war durchgängig schwarz angemalt und nicht gekennzeichnet, jedenfalls soweit Chris aus der Entfernung ausmachen konnte. Es bewegte sich mit einer Geschwindigkeit, die nicht mehr als fünfundzwanzig Stundenkilometer betragen konnte — also noch etwa zehn Minuten, bis es das Tor erreichen würde.
Chris drehte ein paar Sekunden Video. Elaine sagte: »Sind Sie gut in Form? Ich will nämlich da runterjoggen und sehen, was passiert, wenn das Ding ankommt.«
»Könnte gefährlich werden«, sagte Chris. Und vor allem auch kalt. Die Temperatur war in der letzten Stunde um einige Grad gesunken, und er hatte keine Jacke dabei.
»Kaufen Sie sich 'ne Tüte Mumm«, schimpfte Elaine. »Der Laster sieht nicht aus, als wäre er mit Waffen bestückt.«
»Mag sein, aber er ist gepanzert. Irgendjemand rechnet also mit Problemen.«
»Ein Grund mehr, hinzugehen. Hören Sie!«
Sirenengeräusch. Zwei Transporter der Sicherheitskräfte von Blind Lake rauschten an ihnen vorbei, Richtung Süden.
Elaine war ziemlich fit für eine Frau ihres Alters; Chris musste sich sputen, um mit ihr Schritt zu halten.
Acht
Marguerite verließ am Mittwoch ihr Büro frühzeitig und fuhr zur Schule, um sich mit Mr. Fleischer, Tessas Klassenlehrer, zu unterhalten.
Blind Lakes einzige Schule war in einem langen flachen, zweigeschossigen Gebäude nicht weit von der Plaza untergebracht, umgeben von Spielplätzen, einem Sportgelände und einem großzügig dimensionierten Parkplatz. Wie alle Gebäude in Blind Lake war die Schule nüchtern und zweckmäßig gestaltet, aber auch gewissermaßen keimfrei, anonym — es hätte eine beliebige Schule an einem beliebigen Ort sein können.
Sie ähnelte sehr der Schule in Crossbank, und der Geruch, der Marguerite in die Nase stieg, als sie durch die große Vordertür trat, war der Geruch aller Schulen, in denen sie sich je aufgehalten hatte: eine Mischung aus saurer Milch, Sägespänen, Desinfektionsmitteln, dem Körpergeruch Heranwachsender und warmer Elektronik.
Sie folgte dem Korridor bis zum Westflügel. Tessa war dieses Jahr in die achte Klasse gekommen, ein Schritt über die Himmel-und-Hölle- und die Barbie-Phase hinaus, die heikle Pubertät stand kurz bevor. Marguerite hatte selbst gelitten in ihrer Highschoolzeit, und noch immer, wie konditioniert, ergriff sie Anspannung und Unbehagen zwischen den Reihen der lachsfarbenen Schließfächer, obwohl die Schule weitgehend leer war — die Schüler waren vorzeitig nach Hause geschickt worden, um Gelegenheit für diese Lehrer-Eltern-Gespräche zu schaffen. Sie nahm an, dass Tess bereits zu Hause war, vielleicht las sie und lauschte dem Summen der Fußbodenheizung. Trautes Heim, dachte Marguerite ein wenig neidisch.
Sie klopfte an die halb offene Tür von Zimmer 130, dem von Mr. Fleischer. Er bat sie herein und erhob sich, um ihr die Hand zu schütteln.
Sie zweifelte nicht daran, dass Mr. Fleischer ein ausgezeichneter Lehrer war. Blind Lake war eine Vorzeige-Institution des Bundes, und das Angebot einer erstklassigen Schulausbildung spielte eine Schlüsselrolle bei der Anwerbung von Mitarbeitern. So war Marguerite davon überzeugt, dass Mr. Fleischer über makellose Referenzen verfügte. Sein Aussehen entsprach der Vorstellung, die man sich von einem guten Lehrer machte, oder jedenfalls einem Lehrer, dem man getrost sein Vertrauen schenken kann: groß, rehbraune Augen, gut, aber nicht einschüchternd gut gekleidet, mit gepflegtem Bart und freigebig ausgeteiltem Lächeln.
»Willkommen«, sagte er. Der Raum war mit Schreibpulten in Kindergröße ausgestattet, doch der Lehrer hatte ein paar elternkompatible Stühle organisiert. »Nehmen Sie doch bitte Platz.«
Komisch, dachte Marguerite, wie unbeholfen sie sich in dieser Situation fühlte.
Fleischer blickte kurz auf einen Bogen mit Notizen. »Schön, Sie kennenzulernen — beziehungsweise sich mal mit Ihnen zu unterhalten, denn kennengelernt haben wir uns ja schon bei Tessas Einführung. Sie arbeiten in Beobachtung und Interpretation?«
»Genau genommen bin ich die Abteilungsleiterin.«
Fleischers Augenbrauen gingen kurz in die Höhe. »Seit August hier?«
»Tess und ich sind im August hergezogen, ja.«
»Tessas Vater war allerdings schon etwas früher hier, nicht wahr?«
»Das ist richtig.«
»Sie leben getrennt?«
»Wir sind geschieden«, korrigierte Marguerite sofort. War es Paranoia ihrerseits oder hatte Fleischer bereits mit Ray über dieses Thema gesprochen? Ray sagte immer, sie seien »getrennt«, als sei die Scheidung nur ein vorübergehendes Missverständnis. Und es wäre typisch für Ray, über Marguerite zu sagen, dass sie »in der Interpretationsabteilung arbeite«, anstatt zu erkennen zu geben, dass sie deren Leiterin war. »Wir teilen uns das Sorgerecht, aber Tess ist überwiegend in meiner Obhut.«
»Verstehe.«
Vielleicht hatte Ray auch dies zu erwähnen versäumt. Fleischer nahm sich etwas Zeit, um seinen Aufzeichnungen eine Notiz hinzuzufügen. »Tut mir leid, falls diese Fragen aufdringlich erscheinen. Ich möchte mir nur ein Bild von Tessas häuslicher Situation machen. Sie hat ein paar Probleme hier in der Schule gehabt, wie Ihnen sicherlich bekannt ist. Nichts Schwerwiegendes, aber ihre Noten sind nicht ganz so, wie wir sie gerne hätten, und im Unterricht macht sie einen, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, einen etwas zerstreuten Eindruck.«
»Der Umzug …«, setzte Marguerite an.
»Das ist zweifellos ein Faktor. Hier geht es zu wie auf einem Militärstützpunkt. Die ganze Zeit kommen und gehen Familien, und das ist schwer für die Kinder. Und die anderen Kinder können Neuankömmlingen das Leben auch schwer machen, ich habe es allzu oft erlebt. Aber meine Sorge, was Tess betrifft, geht ein bisschen weiter. Ich habe mir ihre Akte aus Crossbank mal angesehen.«
Ah, dachte Marguerite. Nun, das war unvermeidlich. Musste diese alte Geschichte also wieder aufgewärmt werden. »Tess hatte im letzten Frühling einige Probleme. Aber das ist inzwischen alles behoben.«
»Das war in der Phase der Ehescheidung?«
»Ja.«
»Sie war während dieser Zeit in therapeutischer Behandlung, nicht wahr?«
»Bei Dr. Leinster in Crossbank. Ja.«
»Ist sie derzeit in Behandlung?«
»Hier in Blind Lake?« Marguerite schüttelte entschieden den Kopf. »Nein.«
»Haben Sie mal daran gedacht? Wir haben Leute hier im Kollegium, die eine wirklich erstklassige Betreuung anbieten können.«
»Das glaube ich gern. Ich halte es aber nicht für nötig.«
Fleischer machte eine Pause. Er klopfte mit einem Bleistift auf seinen Schreibtisch. »In Crossbank hatte Tess gewisse halluzinatorische Erscheinungen, ist das richtig?«
»Nein, Mr. Fleischer, das ist nicht richtig. Tess war einsam und hat Selbstgespräche geführt. Sie hatte sich eine Freundin erfunden, die sie ›Mirror Girl‹ nannte, und in manchen Momenten fiel es ihr dann ein bisschen schwer, zwischen Realität und Phantasie zu unterscheiden. Das ist ein Problem, aber es handelt sich nicht um Halluzinationen. Sie ist auf Schläfenlappenepilepsie und ein Dutzend andere neurologische Störungen getestet worden. Die Tests waren allesamt negativ.«