Was Chris aufgedeckt hatte, war die Tatsache, dass Galliano ein rücksichtsloser und mitunter auch skrupelloser Geschäftsmann war — wie seinerzeit Edison. Er hatte in Washington antichambriert, um sich umfassenden Patentschutz zu sichern; er hatte Konkurrenten aus dem Markt verdrängt oder sie im Zuge von dubiosen Fusionen und undurchsichtigen Übernahmen geschluckt; schlimmer noch, Chris hatte diverse Quellen aufgetan, die davon überzeugt waren, dass Galliano sich an offensichtlich illegalen Aktienmanipulationen beteiligt hatte. Sein letztes großes Geschäftsprojekt war ein genomischer Impfstoff gegen arteriosklerotische Plaque gewesen — noch unausgereift, aber viel diskutiert, und die Aussicht darauf, wie übertrieben sie auch sein mochte, hatte Gallianos Aktien in Schwindelerregende Höhen getrieben. Am Ende war die Blase geplatzt, doch nicht bevor Galliano und seine Freunde äußerst profitabel verkauft hatten.
»Konnten Sie irgendetwas davon beweisen?«
»Letzten Endes nicht. Wie auch immer, ich hatte das Ganze gar nicht als Enthüllungsbiografie aufgefasst. Er war einglänzender Wissenschaftler. Als das Buch erschien, ist es zunächst recht gut aufgenommen worden, zum Teil sicherlich nur aus Schadenfreude — reiche Leute haben Neider und Feinde —, aber es gab auch viele abgewogene Urteile. Dann hatte Galliano seinen Unfall oder beging Selbstmord, je nachdem, wen man dazu befragt, und seine Familie hat das Buch damit in Zusammenhang gebracht. Revolverjournalismus treibt Wohltäter in den Tod. Daraus lässt sich auch eine gute Story machen.«
»Sie standen vor Gericht, oder?«
»Ich habe im Rahmen einer Kongressuntersuchung ausgesagt.«
»Meinte doch, so was gelesen zu haben.«
»Man drohte mir, mich wegen Missachtung des Kongresses ins Gefängnis zu bringen, weil ich meine Quellen nicht nennen wollte — was sowieso nichts genützt hätte. Meine Quellen waren durchweg bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und als die Untersuchung stattfand, hatten sie alle bereits Erklärungen abgegeben, in denen sie sich auf die Seite von Gallianos Erben stellten. In den Augen der Öffentlichkeit war Galliano inzwischen zu einem Heiligen geworden. Und niemand will eine Autopsie am Leichnam eines Heiligen vornehmen.«
»Pech für Sie«, sagte Charlie. »Oder schlechtes Timing.«
Chris betrachtete den Schneevorhang hinter dem Beifahrerfenster, den Schnee, der sich auf den offenen Flächen des Autos absetzte oder sich hinter den Spiegeln fing. »Oder ich war einfach schlecht beraten. Gegen eine der größten Windmühlen auf dem Planeten anzukämpfen. Ich hatte naive Vorstellungen darüber, wie so etwas funktioniert.«
»Hmm.« Charlie schwieg eine Weile. »Diesmal haben Sie aber was Gutes zu fassen. Die Story über die Quarantäne von Blind Lake, aus der Innenperspektive erzählt.«
»Vorausgesetzt, dass irgendeiner von uns je Gelegenheit haben wird, sie zu erzählen.«
»Soll ich Sie vor dem Gemeindezentrum absetzen?«
»Falls es kein zu großer Umweg für Sie ist.«
»Ich hab's nicht eilig. Obwohl Boomer inzwischen wahrscheinlich Hunger hat. Ich dachte, dass man euch gestrandete Tagesgäste alle bei Einheimischen unterbringen wollte.«
»Ich bin auf der Warteliste. Und morgen habe ich tatsächlich einen Vorstellungstermin.«
»Zu wem sollen Sie geschickt werden?«
»Zu einer gewissen Dr. Hauser.«
»Marguerite Hauser?« Charlie lächelte undurchsichtig. »Wollen wohl alle Parias zusammenstecken.«
»Parias?«
»Ach nee, vergessen Sie's. Ich sollte nicht über Plaza-Politik reden. He, Chris, wissen Sie, was das Gute an Boomer ist, meinem Hund?«
»Was denn?«
»Er hat keine Ahnung von der Quarantäne. Er weiß nichts davon und es kümmert ihn nicht, solange er nur regelmäßig sein Fressen kriegt.«
Glücklicher Boomer, dachte Chris.
Elf
Tessa erwachte um sieben Uhr, ihre übliche Zeit unter der Woche, doch noch bevor sie die Augen aufschlug, wusste sie, dass heute keine Schule sein würde.
Es hatte gestern den ganzen Tag geschneit, und als sie zu Bett ging, war immer noch Schnee gefallen. Und jetzt, heute Morgen, brauchte sie nicht einmal den spitzenbesetzten Vorhang zurückzuziehen, der ihr Fenster bedeckte, denn sie konnte den Schnee hören. Hören, wie er gegen das Glas rieselte, ein Geräusch so sanft und leise wie Mäusegeflüster, und sie konnte auch die Stille hören, die es umgab. Keine über die Auffahrten scharrenden Schaufeln, keine Autos mit knirschenden Reifen, nur ein über allem liegendes weißes Nichts. Mit anderen Worten, richtig viel Schnee.
Sie hörte ihre Mutter unten in der Küche hantieren und dabei vor sich hinsummen. Also auch dort keine Eile, keine Dringlichkeit. Wenn Tess jetzt wieder einschlief, würde ihre Mutter sie wahrscheinlich einfach im Bett bleiben lassen. Es war wie Wochenende, dachte Tess. Kein ruckartiges Erwachen, sondern man konnte die Welt langsam einsickern lassen. Langsam, bedächtig öffnete sie die Augen. Das Tageslicht in ihrem Zimmer war trüb und fast flüssig.
Sie setzte sich auf, gähnte, zupfte ihr Nachthemd zurecht. Der Teppich war kalt unter den nackten Füßen. Sie schob sich am Bett entlang zum Fenster und zog den Vorhang zurück.
Die Fensterscheibe war vollkommen weiß, eine undurchsichtige weiße Fläche. Schnee türmte sich eindrucksvoll auf dem äußeren Sims und innen hatte die kondensierte Feuchtigkeit frostige Filigranmuster gebildet. Tess streckte sofort die Hand aus, berührte das eisige Fenster jedoch nicht, sondern fühlte die Kälte aus einigen Zentimetern Abstand. Es war fast, als würde das Fenster die Kälte ins Zimmer atmen. Sie achtete sorgsam darauf, die zarten Eislinien nicht zu beschädigen, die zweidimensionalen Schneeflockenmuster, die wie die Straßenkarte einer elfenhaften Stadt anmuteten. Das Eis war auf der Innenseite des Fensters, nicht außen. Der Winter hatte richtiggehend durchs Glas gegriffen, dachte Tess. Der Winter hatte seine Hand in ihr Zimmer gesteckt.
Lange starrte sie auf die Eismuster. Sie waren wie geschriebene Worte, die ihre Bedeutung nicht preisgeben wollten. Vergangene Woche hatte Mr. Fleischer im Unterricht über Symmetrie gesprochen. Er hatte von Spiegeln und Schneeflocken erzählt. Er hatte der Klasse gezeigt, wie man ein Blatt Papier falten und mit einer Schere Muster in die Falte schneiden konnte. Wenn man dann das Papier wieder auseinanderzog, sahen die aufs Geratewohl gesetzten Schnitte plötzlich wunderschön aus. Waren zu geheimnisvollen Masken und Schmetterlingen geworden. Das Gleiche konnte man auch mit Farbe machen. Einen Klecks auf das Papier setzen und es dann, solange die Farbe noch nass war, in der Mitte falten. Wieder aufklappen und die Kleckse hatten sich in Augen, Motten, Gewölbe oder gezackte Regenbogen verwandelt.
Die Frostmuster auf dem Fenster waren eher wie Schneeflocken, so als hätte man das Papier nicht einmal gefaltet, sondern zweimal, dreimal, vier … aber niemand hatte das Glas gefaltet. Woher wusste das Eis, welche Muster es machen sollte? Hatte es eingebaute Spiegel innen drin?
»Tess?«
Ihre Mutter stand an der Tür.
»Tess, es ist schon nach neun. Heute ist keine Schule, aber willst du nicht aufstehen?«
Nach neun? Tess blickte auf ihren Nachttischwecker. Tatsächlich, neun Uhr acht. Aber war es nicht gerade eben erst sieben gewesen? Kurz entschlossen streckte sie die Hand vor und hinterließ einen schmelzenden Abdruck auf der Fensterscheibe. »Ich komme!« Ihre Hand war augenblicklich kalt geworden.
»Was möchtest du essen?«
»Frühstücksflocken!« Fast hätte sie Schneeflocken gesagt.
Beim Frühstück erinnerte die Mutter Tessa daran, dass sie heute einen Übernachtungsgast erwarteten — »Vorausgesetzt, die Straßen sind bis Mittag geräumt.« Dies fand Tessa ungeheuer interessant. Tessas Mutter arbeitete heute zu Hause, wodurch alles noch mehr wie Wochenende war, abgesehen eben von der Möglichkeit, dass diese neue Person ins Haus kam. Ihre Mutter hatte ihr erklärt, dass einige der Besucher und der nicht hier wohnenden Angestellten noch immer in der Sporthalle des Gemeindezentrums übernachteten, was nicht sehr bequem war, und dass die Leute, die in ihren Häusern ein Zimmer frei hatten, gebeten worden seien, dieses zur Verfügung zu stellen. Tessas Mutter hatte ihre Fitnessgeräte, einen Crosstrainer und ein Ergometerfahrrad, aus dem kleinen, mit Teppich ausgelegten Zimmer im Keller, gleich neben dem Wasserkessel, geräumt. Jetzt stand ein Klappbett darin. Tess fragte sich, wie es wohl sein würde, einen Fremden im Keller zu haben. Einen Fremden, der beim Essen mit am Tisch saß.